Abholung


08.06.2021

Es war ein gewohnter Tag. Die Türe öffnete sich, um einen neuen Kunden ins Innere zu lassen, nur um sich dann hinter einem Kunden zu schließen, der die Filiale mit seinem erfülltem Anliegen schloss. Die Arbeit am Schalter der kleinen Poststelle war wesentlich angenehmer für ihn als jene im Lager, wo er den ganzen Tag damit beschäftigt war, Pakete zu schieben, bis sie so gut verstaut waren, dass sie wenig Platz kosteten und ein jeder sie gleich fand. Oft genug hatte er schon einen Arbeitstag dort verbracht, um zu wissen, wie sehr ihm diese Arbeit nicht gefiel.

Ein weiteres Mal öffnete sich die Tür. Eine alte Dame trat herein, die sich vom Alter gebeugt auf ihren Gehstock stützte. Den ausgeprägten Falten in ihrem Gesicht nach zu urteilen hatte sie ein gehobenes Alter, welches nicht viele erreichen würden. Er schloss sich dabei selbst ein. Dafür war sein Lebensstil viel zu ungesund in mancher Hinsicht. Vielleicht hatte er aber auch Glück und die Gesundheit meinte es gut mit ihm. Noch einige Kunden vor der alten Dame, die sich an der Schlange vor seinem Schalter anstellte, arbeitete er ab, dann blickte er ihr entgegen. Den Kopf musste er dabei etwas senken, war sie doch wesentlich kleiner als er.

„Einen guten Morgen wünsche ich. Wie kann ich ihnen denn helfen?“, erkundigte er sich, wobei er seine Stimme bereits etwas anhob, da er davon ausging, dass die Frau ihn schlecht verstehen würde. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass einer der älteren Mitmenschen die gewohnte Lautstärke als zu gering empfand. Ein Umstand, der ihn störte, war es nicht. Sollte er es doch einmal in dieser Alter schaffen, dann wäre er froh, wenn man mit ihm ebenso rücksichtsvoll umgehen würde.

„Guten Morgen.“, erwiderte die alte Dame in einer vom Alter gezeichneten Stimme. „Ich habe eine Karte in meinem Briefkasten gefunden und wollte das Paket abholen.“

„Haben sie denn die Karte dabei?“

„Natürlich. Einen Moment.“, bat sie ihn und hob ihre Handtasche auf den Tresen. Das Reißverschluss zog sie langsam mit zittrigen Fingern auf, dann fuhrt die rechte Hand in das Innere. Ein Blick hinter die alte Dame verriet ihm, dass sie sich durchaus Zeit lassen konnte. Es war nur noch ein weiterer Kunde in der Schlage, der sich bei zu langer Wartezeit auch an den zweiten stellen konnte, an welchem seine Kollegin arbeitete. Ihre Blicke kreuzten sich, als er sein Augenmerk auf sie richtete und sie nickte ihm einmal verstehend zu. Nach drei Jahren in der gleichen Filiale mit den gleichen Kollegen verstand man sich blind, was auch daran lag, dass er mit ihr gerne einmal nach dem Feierabend etwas unternahm. Sie war eine angenehme Zeitgenossin.

„Moment, ich habe sie gleich.“, sprach die alte Dame, auf die er dadurch wieder seine Aufmerksamkeit lenkte. Die Hand hatte sie noch immer tief in der Tasche vergraben. Ihr Gesicht erhellte sich. Erst hob sie den Kopf, dann die Hand und reichte ihm eine zerknitterte Karte, die durch den Transport ein wenig Schaden genommen hatte. Er nahm sie ihr ab, um einen Blick darauf zu werfen. Die Knicke verliefen so, dass einige der Zahlen schwer lesbar waren, aber es würde reichen, um sich zu orientieren.

„Dann bräuchte ich noch ihren Ausweis.“, gab er die nächste Bitte preis, nachdem er die Karte hatte sinken lassen. Die Frau vor ihm blickte ihm verständnislos entgegen.

„Für was brauchen sie denn meinen Ausweis?“, wollte sie wissen. Sie war nicht die Erste, die eine solche Frage stellte und sie würde bei Weitem auch nicht die letzte sein.

„Damit ich eindeutig identifizieren kann, dass dieses Paket auch zu ihnen gehört und sie die Karte nicht von jemand anderem haben.“, erwiderte er routiniert. Auch diesen Satz hatte er schon mehr als einmal von sich gegeben. Die Reaktionen darauf waren unterschiedlich. Am häufigsten kam es allerdings vor, dass man aufgrund des Vergessens des Ausweises wütend wurde. Er hatte aber seine Vorschriften, an die er sich halten musste.

„Aber hören sie mal, ich hätte doch die Karte nicht, wenn mir das Paket nicht gehören würde.“, echauffierte sich die Ältere. Im gleichen Moment griff sie in ihre Tasche hinein. Ein Portemonnaie holte sie hervor, um es zu öffnen. Die Karten, die in zu sehen waren, ging sie durch. Einen weiteren Knopf öffnete sie, um an eines der tieferen Fächer zu gelangen. Geduldig wartete er ab. Noch einige Lidschläge benötigte sie, dann reckte sie ihm den Ausweis entgegen. Ein kurzer Blick darauf genügte ihm schon. Der Name auf dem Ausweis und jener auf der Karte stimmte miteinander überein.

„Vielen Dank.“

„Was? Mehr wollen sie nicht? Und dafür habe ich nun das alles hervorgekramt?“, ging das Echauffieren weiter. Die folgenden Worte sprach sie leiser, sodass sie nicht an sein Ohr gelangen konnten und auch als er sich in den hinteren Raum aufmachte, um das Paket zu suchen, konnte er ihr Gemurmel noch vernehmen. Zu Beginn seiner Arbeit hier hätte er sich darüber geärgert, mittlerweile war er allerdings abgehärtet. Es war zwar nicht immer leicht, die Ruhe zu bewahren, doch nach außen hin gelang es ihm doch stets. Um sich Luft zu machen nutzte er die Zeit nach dem Feierabend.

Zwischen den Regalen vollgepackt mit Paketen in den unterschiedlichsten Größen wanderte er hindurch. Sie waren so sortiert, dass der Tag der Anlieferung und dann die Nummer ein schnelles Finden zuließen. Eigentlich. Nicht aber bei diesem Paket. Noch einmal versicherte er sich, dass er durch die Beschädigung der Karte nicht ein falsches Datum gelesen hatte, doch war es eindeutig erkennbar. Das Schriftstück wanderte in die linke Hand, sodass er die rechte frei hatte, um einige der Pakete zu verschieben. Es war nicht selten, dass etwas kleinere dahinter rutschten oder der Sortierer unordentlich gearbeitet hatte. Er hob sogar einige an, um einen besseren Blick auf die Nummern werfen zu können. Vergeblich.

Gute fünf Minuten des Suchens später kam er wieder aus dem Paketlager hervor, um an den Schalter zu treten, an welchem die ältere Dame noch immer wartete. Erwartungsvoll blickte sie ihn an. Als sie allerdings bemerkte, dass er mit leeren Händen zurückkehrte, verfinsterte sich ihr Blick schlagartig. Die Enttäuschung stand ihr sichtbar ins Gesicht geschrieben.

„Es tut mir leid, aber ich konnte das Paket nicht finden.“, entschuldigte er sich wahrheitsgemäß.

„Das kann nicht sein. Schauen sie noch einmal nach.“, entgegnete sie, wobei die Wut und Enttäuschung auch in ihrer Stimme ablesbar war. Die Karte legte er vor sich auf dem Schalter ab. Mit dem Zeigefinger deutete er erst auf das Datum, dann auf die Nummer.

„Schauen sie, hier steht das Datum und die Nummer. Danach ist unser Lager sortiert, damit wir …“

„Nein, das muss da sein! Es ist sehr klein. Schauen sie noch einmal nach!“, unterbrach sie ihn mit ihrer Forderung. Eigentlich war es der Moment, an dem er ihr die Karte zugeschoben hätte und sie gebeten, den Laden zu verlassen aufgrund ihrer Unfreundlichkeit, doch erbarmte er sich in diesem Moment. Bei einer freundlichen Nachfrage wäre es kein Problem für ihn gewesen, doch einer betagten Dame konnte er dieses Verhalten nicht verübeln. Somit ging er wieder mitsamt der Karte in das Lager.

Seine Suche erweiterte er, indem er vorkommende Zahlendreher mit einbezog, ebenso einen Tag früher und einen später, doch war er auch diesmal erfolglos. Trotz dass er die Pakete aus dem Regal nahm, vor sich aufstellte und so auch dahinter blickte, konnte er das besagte Paket nicht finden. Wenn es wirklich so klein war, dann konnte es hinter das Regal gefallen sein und so sah er auch dort nach, ebenso mit gleichem Ergebnis. Die logischste Erklärung für ihn war es, dass es noch immer im Lieferwagen der Post lag, wo es der Bote vergessen hatte. Vielleicht war es in eine Spalte gefallen.

Wieder an den Schalter getreten wendete er sich an die Dame, die mittlerweile auch merklich die Ungeduld packte. Ein Kopfschütteln gab er von sich, dann setzte er an zum Sprechen.

„Nein, das muss da sein! Ich habe selbst zwanzig Jahre lang bei der Post gearbeitet und die Pakete sind immer da. Sie sind nur falsch einsortiert oder jemand hat sie vergessen.“, erklärte die Dame im aufgebrachten Ton, wobei sie mit der rechten Hand gestikulierte.

„Es tut mir sehr leid, aber ich kann es nicht …“

„Sie schauen nur nicht ordentlich. Das muss da sein. Bestimmt wollen sie es mir vorenthalten. Wollen sie das? Dann rufe ich die Polizei. Dann können sie es mir nicht mehr vorenthalten.“, redete sich die Frau förmlich in Rage. Er ließ es über sich ergehen. Wenn sie ihn unterbrach, dann musste er nicht das gleiche Verhalten an den Tag legen.

„Es gäbe keinen Grund, ihnen dieses Paket vorzuenthalten. Ich kann es in unserem Lager nicht finden. Demnach ist es hier nicht angekommen.“, versuchte er es noch einmal mit einer vernünftigen Erklärung.

„Nein, nein, nein! Das muss da sein. Natürlich muss es das! Das ist die einzige Post in der Umgebung. Wo sollte es denn sonst sein?!“, merkte sie noch immer wütend an und hieb mit der rechten Hand einmal auf den Tresen. Wäre es fester gewesen, hätte er sich Sorgen gemacht, dass sie sich wehgetan hätte, doch konnte sie dazu vermutlich gar nicht mehr die Kraft aufbringen.

„Wenn sie mir sagen, was in dem Paket ist und woher es kommt, kann ich vielleicht etwas in die Wege leiten.“, bot er ihr an. Er wusste nicht warum, aber die Frau tat ihm leid. Schon öfter hatte er so etwas erlebt und dann abgeblockt. Meistens handelte es sich um einfache Sendungen von Onlinekäufen, die den Kunden so wichtig waren. Die Wut in der älteren Dame klang ab. Sie atmete tief durch, um sich selbst zu beruhigen. Wahrscheinlich war ihr ihr Verhalten auch selbst peinlich, doch niemand konnte etwas für seine Emotionen.

„Es ist ein kleines Paket. Es kommt hoch oben von der Nordseeküste. Darin sind der Ehering und die Manschettenknöpfe meines verstorbenen Mannes.“, erklärte sie ihm ruhig mit gebrochener, zittriger Stimme. Den Kopf senkte sie auf die Worte hin. Nun ihre Vehemenz für ihn Sinn.

„Mein herzliches Beileid. Folgen sie mir bitte. Vielleicht finden sie es ja.“, bat er sie und erntete dafür einen verwunderten Blick seiner Kollegin, die die Szenerie ebenso beobachtet hatte. Auch wenn er den Blick bemerkte, ging er kommentarlos an ihr vorüber und in das Lager. In der Tür wartete er. Die ältere Dame folgte ihm langsam.

Das Regal zeigte er ihr, in dem das Paket eigentlich stehen sollte. Die alte Dame ließ ihren Blick über das Regal hinweg wandern, langsam vom obersten bis zum untersten Paket. Mit dem Zeigefinger deutete sie dann hinab. Ihrem Deut folgte er, dann ging er in die Knie und schob einige Pakete zur Seite. Fürwahr fiel ihm dabei ein kleines Paket in die Hände.

„Das ist es!“, stellte die Dame erfreut fest, wobei die Stimme noch immer ein wenig zittrig war. Den Besitz reckte er ihr entgegen. Die zittrigen Finger umschlossen es und sogleich drückte sie das kleine Paket an die Brust. Es war so klein, dass ein Verschwinden nicht verwunderlich war. Dennoch war er sich sicher, dass er genau an diesem Punkt nachgesehen hatte. Nun war es aber zu spät sich darüber zu ärgern. So erhob er sich wieder.

„Verzeihen sie. Ich muss es wirklich übersehen haben.“, entschuldigte er sich noch einmal ehrlich. Wohlwollend blickte die alte Dame ihm entgegen. Die Ehrlichkeit in seiner Stimme hatte sie scheinbar gelesen.

„Sie müssen sich nicht entschuldigen. Ich war ja auch nicht gerade freundlich.“, sprach sie im versöhnlichen Ton. Das kleine Paket ließ sie in der Handtasche verschwinden. Die Hand zog sie wieder hervor und streckte sie ihm hin, ein Geldschein in dieser. Erst wollte er sich weigern, dann aber nahm er ihn an sich. Er wollte nicht noch einmal eine Diskussion entflammen lassen.

„Vielen Dank. Ich wünsche ihnen noch einen angenehmen Tag.“, verabschiedete er sich. Die Frau hatte schon verstanden und so begab sie sich aus dem Lager hinaus.

„Den wünsche ich ihnen ebenso. Ich bin ihnen sehr dankbar.“, sprach sie auf dem Weg hinaus. An der Tür der Filiale drehte sie sich noch einmal zu ihm hinter dem Schalter um. Ein Lächeln später öffnete sie die Tür, um in das Grau des Tages zu verschwinden. Viel Zeit ihr nachzublicken blieb ihm nicht, stand immerhin schon der nächste Kunde vor ihm. Dennoch war er sich sicher, dass ihm diese Begegnung noch lange im Gedächtnis bleiben würde.