11.11.2022 (nach einer Geschichte vom 22.04.2007)
So stehen wir nun voreinander, nach all diesen langen Jahren, die uns miteinander verbinden. Noch heute weiß ich, als wäre es erst eine Stunde her, wie wir uns kennenlernten. Es war das gleiche Bild wie in diesem Moment. Voreinander standen wir im Mondlicht auf der Lichtung des Waldes zur Zeit des Erntefestes, kaum aus den Kinderschuhen ehrausgewachsen. Für uns beide hatte dieser Wald eine große Bedeutung, ebenso wie dieses Fest. Ich erblickte dich und wusste sogleich, was geschehen würde. Ab dem ersten Augenblick war meine Liebe mit dir. Doch du, du hattest nichts bemerkt. Ich versuchte mich dir anzunähern, ohne dich zu bedrängen. Ein schmaler Grat, den ich gehen musste. Während mein Herz mehr davon wollte, gar verlangte, wusste mein Kopf, dass ich überstürzt nicht das erreichen würde, was ich mir so sehnlich wünschte. Als ich ein Lächeln auf deinen Zügen erkennen konnte, vernahm ich bereits die ersten Zeichen des Sieges in mir, hell wie ein Glockenschlag. Mit dieser Nacht würde sich mein Leben verändern, das wusste ich.
Du blickst mir in die Augen und zitterst, wie auch ich es tue. Wir wissen beide, was nun kommen wird, was nun kommen muss. Zu lange hatten wir vor diesem Moment Angst, als dass wir nun nicht wüssten, wann er vor uns steht. Viel zu oft hatte ich mir bereits ausgemalt, wie er aussehen würde.
Unser zweites Treffen verlief ebenso. Wir trafen uns wieder hier, auf der Lichtung der Freundschaft, wie wir sie seit unserem ersten Aufeinandertreffen nannten. Zusammen saßen wir im Gras und blickten in die Sterne, die auf uns herab schienen. Gespräche begleiteten uns dabei. Deine Worte waren so voller Leid, denn von einem ruhigen, erfüllten Leben hattest du nicht viel. Ich versuchte dir mit meinem Rat zu helfen, versuchte alles, um dir wenigstens etwas Glück in der Trostlosigkeit zu bescheren. Dabei belog ich mich selbst. Dass wir nur Freunde waren und ich nicht mehr wollte redete ich mir ein, weil ich wusste, dass diese Lüge für mich bei dir Wahrheit war.
Einige Schritte gehen wir aufeinander zu. Die Arme heben wir beide, wie bei Marionetten, an deren Stricken man zieht, als würden wir eine Umarmung vom jeweils anderen erwarten, doch geschah nichts. Ich traue es mich nicht, ebenso wenig wie du. Machten wir gerade noch einen Schritt aufeinander zu, so bringen wir nun mit einem zurück wieder Distanz zwischen uns. Einem minimalistischen Tanz gleicht es. In die Augen blicke ich dir, in denen ich Tränen erkennen kann.
Tränen, die ich auch bei unserem dritten Treffen in deinen Augen sah, als du auf mich zukamst. Ich weiß noch, dass die Straßen damals viel zu voll waren, als dass man innige Gespräche führen konnte, nach denen der Ausdruck in deinem Gesicht förmlich schrie. Zu viele Augen sahen uns. Doch das war mir egal. Ich zog dich mit mir auf eine der Bänke, auf der du dich sogleich gegen mich lehntest. Die Worte sprudelten aus dir hervor, als hätte man einen Staudamm gesprengt. Von all deinem Leid sprachst du, offenbartest mir deine Qualen, bis auch ich Tränen aufkommen spüren konnte.
Als ich dich ansehe, sehe ich einen silbrigen Schimmer deine Wange hinab rinnen. Die erste Träne des Abends zieht ihre salzige Bahn über deine Wange. Sie wird nicht die letzte sein. Deinem Blick kann ich nicht mehr standhalten und so senke ich den meinen, denn noch nie konnte ich dich weinen sehen. Du hast es nicht verdient, all dies, was mit dir geschieht und dich immer wieder zum Weinen bringt. Dieses Bild erinnert mich an eines unserer zahlreichen Treffen, bei denen du so erfüllt von Kummer warst. Tränen flossen dir über die Wangen, während du sprachst. Deine Worte waren dabei wie Nadeln, die ihren direkten Weg in mein Herz fanden, wo sie für immer verblieben.
Vorsichtig und langsam, als würden Tausende von Steinen an ihr hängen, hebe ich meine rechte Hand und blicke dich an. Deinem Gesicht nähere ich mich mit ihr, immer bereit, sie zurückzuziehen, als wäre es ein Feuer, welches ich versuche zu berühren und Angst davor habe, mich zu verbrennen. Du ziehst dich nicht zurück. Meine Finger gleiten über die weiche Haut deiner Wange hinweg, immer darauf bedacht, die Bahnen der Tränen nicht zu verwischen. Die erste Berührung dieser Art war bereits wundervoll. Nie werde ich diese vergessen. Die Geste spendete dir in diesem Moment Trost. Das schmale Lächeln, welches du hervorbrachtest, war daraufhin der meine.
Diesmal rufen meine Berührungen aber kein Lächeln hervor, denn in viel zu schweren Stunden sind sie. Der Mond, der zwischen Wolken hervor auf uns herab scheint, beobachtet uns, während er uns in seinem Licht ertrinken lässt. Jede unserer Bewegungen sieht er, jedes Heben und Senken unserer Brust, doch bleibt er trotzdem still, denn er sieht nicht, wie es in uns ist. Er sieht nicht das, was wir sehen. Wir sehen uns, die erdrückende Welt um uns und all die ihr abgerungene, schöne Zeit, die wir miteinander verbrachten. All meinen Mut nehme ich zusammen. Die Arme hebe ich, um dich mit einem großen Schritt voran in diese zu schließen. Sanft drücke ich dich an mich heran. Die Befürchtung, dass du von mir weichen könntest, zerstörst du, als du dich an mich schmiegst. Wie die erste Umarmung, die mich eng an dich band. Du warst so leidvoll in diesem Moment, dass ich es nicht mehr anders konnte. Wie von selbst schloss ich meine Arme um dich. Geborgen hielt ich dich in ihnen, schützend vor all den Qualen, die dich umgaben. Ein Zeichen der Verbundenheit, der Freundschaft für dich und ein Zeichen meiner innigsten Liebe zu dir für mich.
Unsere Augenpaare treffen sich wieder. Vielsagend siehst du mich an, als wären deine Blicke eine Feder, die die Seiten eines Buches füllen. Jedes einzelne deiner Gefühle kann ich in den Spiegeln der Seele erkennen. Etwas, das ich über die vielen Jahre hinweg lernte. Nur zaghaft nähern sich unsere Gesichter. Die Lippen berühren sich leicht. Nicht mehr als ein Hauch ist es und doch ist es ein Kuss. Der letzte wohl für uns. Unser erster war weder aus Freundschaft, noch aus Liebe. Mein Mitleid bewog mich dazu. Ohne darüber nachzudenken versuchte ich dich damit abzulenken. Ich erreichte das genaue Gegenteil damit. Wie in diesem Moment. Der Strom der Tränen nimmt zu. Den Mund öffne ich, um etwas zu sagen, doch legst du mir sogleich den Finger auf meine Lippen, um mich zum Schweigen zu bringen, als wäre es ein Schlüssel, der das Schloss zu meinem Herz verriegelt. Diese kleine Geste, die viele nur als eine Bitte des Schweigens interpretieren, ist so viel mehr für mich. Als ich es nicht mehr aushielt, dich in deinem Zustand zu sehen, heruntergekommen und vom Leben gezeichnet, sagte ich dir, was ich für dich empfand. Damit wollte ich dich dich von all dem Schlechten befreien. Dann spürte ich deinen Finger auf meinem Mund, dem schnell deine Lippen Platz machten, über die darauf die schönsten Worte hinweg kamen, die man hören konnte, gleich dem Gesang von Engeln. Sie berichteten von der Erwiderung meiner Gefühle zu dir.
Auch in diesem Moment erwidern wir die Gefühle, doch sind es keine des Glücks. Es sind keine der Freude, der Geborgenheit oder der Zärtlichkeit. Ich weiß nicht, was für Gefühle es sind und ich weiß nicht, wohin sie gehen würden. Oft wusste ich dies auch nicht in der Zeit, in der wir uns liebten. Du nahmst mich an der Hand. Wie ich dir das Glück zeigte, so zeigtest du mir das Leben. Dein Leben. Unser Leben, wie ich es mir so oft wünschte, selbst wenn es hinter dem Vorhang der Verschwiegenheit verborgen war. Es war eine Zeit der strahlenden Sonne, die keine Wolken kannte. Nun lehrst du mich erneut etwas. Ein Gefühl ist es, dass ich in dieser Intensität vorher nur gesehen hatte, aber niemals selbst erlebt: Leid . Unendlich langsam, als wäre die Schwerkraft nur eine Formel in den Büchern, um manche Schüler in Verzweiflung zu stürzen, rinnen die Tränen meine Wange hinab. Auf den Boden ergießen sie sich. Der Boden, auf dem wir so oft saßen, die Worte so weich wie Federn und unsere Liebe so heiß wie glühende Kohlen.
Das silbrige Licht verschwindet hinter einer Wolke, um uns der Dunkelheit zu überlassen. Der Beobachter ist gegangen und doch fühlt es sich an, als würde er um uns weinen, als der erste Tropfen meinen Schopf erreicht. Ein Regen setzt ein, der so sanft und mild ist, wie es sonst nur du sein konntest. Das Haar lässt er an deiner Stirn kleben, als wäre dein Gesicht noch nicht nass genug. Sanft streiche ich dir die Strähne hinter das Ohr zurück.
Eigentlich trafen wir uns hier, um, wie ich dachte, schöne Stunden miteinander zu verbringen, wie wir es so oft taten, doch sagtest du mir nur, dass es sich für uns nicht lohnt, dass du kalt geworden bist und nichts mehr empfindest, besonders nicht für mich. Die Gesten, die den Worten folgen, sprechen etwas anderes. Während sich unsere Tränen mit dem Regen vermischen, schmiegen wir uns aneinander. Kein weiteres Wort fällt, welches das Schweigen des Momentes durchbrechen kann. Einen letzten Blick schenke ich dir und löse mich dann, um zu sehen, wie du dich abwendest. Langsam gehst du durch den Regen, den ich schon immer so schön fand, denn dann sah man nie die Tränen auf meinem Gesicht, wenn wir beieinander waren und du mir von dir erzähltest. Als du dich umdrehst, blicke ich dich nur an, verwundert, besorgt und gespannt, was nun kommen wird. Deine Lippen wollen Worte formen, doch bringen sie kein einziges darüber hinweg. Kein Laut außer das sanfte Plätschern dringt an mein Ohr. Raschen Schrittes trittst du auf mich zu, wirfst dich förmlich gegen mich und schmiegst dich so eng wie nie zuvor an mich heran. Das Flüstern, welches du dabei von dir gibst, gleicht einem Schrei in meinen Ohren: „Ich liebe dich.“