19.05.2022
Er stand am Steg. Der Wind wehte ihm durch das lange Haar. So tanzte es wie zu einem Frühlingsfest. Ein goldener Reigen, der bedingungslos der Macht des Windes ausgesetzt war. Sein Blick ging auf das vor ihm liegende Meer hinaus. Welle um Welle schob sich dieses entlang, in dem Wissen, dass sie am Ufer ihr Ende finden würde. Ein unendlicher Takt, der nie gebrochen werden würde. Etwas anderes als das Ufer konnte sie jedoch nicht aufhalten. Nichts von menschlicher Hand konnte dem Schauspiel der Natur auf ewig trotzen. Es war ihr Schicksal und diesem war sie ergeben.
Der Motor eines ankommenden Autos lenkte seine Aufmerksamkeit vom Meer hin zu der kleinen Straße, die in gewundenen Pfaden die hohen Klippen an geeigneter Stelle hinab zum Steg führte. Im langsamen Tempo fuhr es die steile Straße hinab. Ein einfacher Wagen war es, der ohne eine große Besonderheit auskam. Ein Auto, wie es jeder Zweite fährt. In der Nähe des Steges kam es zur Ruhe. Nach einigen Momenten öffnete sich die Tür. Vom Beifahrersitz schob sich eine Frau aus dem blechernen Gefährt. Die schwarze Jacke, in die sie sich gehüllt hatte, war der kühlen Luft am Meer angemessen. Als sie den heftigen Windzug an ihrem blonden Haar reißen spürte, schob sie sich schnell die Kapuze über den Kopf hinweg und befestigte sie mit einem Ziehen an den Bändchen, sodass sie nicht wieder hinab gewirbelt wurde. Auch der Fahrer verließ das Auto. Seine Schritte führten ihn ohne Umschweife an das Heck, wo er die Klappe öffnete, um an den Kofferraum zu gelangen. Die Frau folgte ihm dorthin. Ihre Schritte waren langsam und bedächtig. Eile schienen beide keine zu haben. Sie nahm die Tasche in Empfang, die er ihr reichte. Gerade einmal groß genug um die Kleidung für drei Tage zu beherbergen war diese. Es schien allerdings nicht, als wäre Kleidung in ihr, auch wenn das Volumen groß war. Viel eher schien sie schwer zu sein, wie man es bei einem normalen Gepäckstück nicht erwarten würde. Das Gewicht zog den Arm etwas hinab. Nachdem der Kofferraum geschlossen war, begaben sich die beiden gen des Steges. Am Wartenden gingen sie vorüber und in diesem Moment schloss er sich ihnen an. Der schmale, hölzerne Weg führte hin auf das kleine Fährschiff, welches an diesem Ort angelegt hatte. Zehn Personen konnte dieses neben der Mannschaft mit Leichtigkeit befördern. Es war ein einfaches, kleines Schiff, ohne Luxus oder etwas, was man nicht brauchte. Der Zweck war bei diesem Gebilde wichtiger als die Bequemlichkeit. Ein einziges Deck, ein windgeschützter Aufbau in der Mitte und eine Reling, die sich um das Schiff zog, sodass die Mitfahrenden keiner Gefahr ausgesetzt waren, ungewollt von Bord zu gehen. Das Auffälligste mochte die Fahne am Heck sein, die in grün-weiß-orange sich dem Wind erwehrte. Am Ende der Planke, die den Steg mit dem Schiff nahtlos verband, wartete ein in die Jahre gekommener Mann. Der dunkelbraune Bart war von grauen Haaren durchzogen. Jene auf dem Kopf waren unter einer Kapitänsmütze verborgen. Viele schien er davon aber nicht mehr zu haben. Dunkelblaue, wachsame Augen blickten über die Neuankömmlinge. In stark akzentuiertem Deutsch begrüßte er die beiden und reichte ihnen jeweils die Hand, bevor er sie gänzlich auf das Schiff ließ.
An Bord angekommen bemerkte man das leichte Wanken des Schiffes, welches von den Wellen in einem sanften Takt hin und her geschaukelt wurde, wie die Wiege eines Kindes. Der pfeifende Wind war dabei das Schlaflied. Gelegentliche kleine Spritzer von Wasser fanden ihren Weg hinauf auf das Deck des Schiffs. Aus diesem Grund war es ratsam, vorsichtig zu sein, wohin man trat und nur festen Schrittes zu gehen. Sie hielten sich daran. Auf den überdachten Aufbau steuerten sie zu, um sich vor der Gewalt der Natur zu schützen. Dabei passierten sie eine junge Frau, die unweit des Eingangs am Geländer lehnte. Der letzte in der kleinen Reihe hielt an, um sie zu betrachten, ganz unverhohlen und ohne Scheu. Von schlanker Statur war sie und gekleidet in Jeans und einen dicken Pullover. Die freie Haut, die man sehen konnte, war weiß wie die Gischt des Meeres. Das Gesicht war von Sommersprossen geziert und leicht lockigem, rotem Haar umgeben. Es war aber nicht gefärbtes Haar. Sein erster Blick verriet ihm bereits, dass dies ihre natürliche Haarfarbe war. Eine Augenweide war sie. Schwer fiel es ihm, seinen Blick von ihr zu reißen, doch schlussendlich gelang es ihm und er trat in den Aufbau des Schiffes. Die Pflicht rief. Seine vorige Begleitung hatte sich zu einem der Tische begeben, auf dem sie die Tasche abgestellt hatten, die die Trägerin öffnete. Zwar kam Stoff aus dieser zum Vorschein, jedoch war es keine Kleidung. Es war Füllmaterial, um das, was eigentlich darin verborgen lag, zu beschützen. Ein Schatz. Die Finger strichen zärtlich und leicht zitternd darüber. Das Gesicht war dank der Kapuze verborgen.
Ein Pfiff ertönte, dann einige lautere Worte in englischer Sprache. Ein kurzes, unruhiges Treiben kam in die Besatzung des Schiffes. Kaum zwei Lidschläge später legten sie auch schon ab. Von den Gezeiten ließen sie sich hinauf auf das Meer tragen. Durch die gläserne Front des Aufbaus konnte man die sich entfernende Küste erkennen, ebenso aber auch das unendliche Meer, welches immer größer zu werden schien. Es verschlang sie förmlich. Die dichte Wolkendecke wies Hier und Da einige Löcher auf, durch die Sonnenstrahlen brachen, um sich mit dem Meer zu vereinen. Die Tür des Aufbaus öffnete sich. Schnell schlüpfte die Rothaarige in das Innere. Den Eingang versiegelte sie rasch, damit nichts des Windes und des Wassers ins Innere gelangen konnte. Ein freundliches Lächeln schenkte sie den Mitfahrenden, dem ein Gruß in englischer Sprache folgte. Nur auf eine leise, mehr genuschelte Erwiderung stieß die Geste. Daran schien sie sich allerdings nicht zu stören. An einem Tisch unweit des belegten nahm sie Platz und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Das grünblaue Augenpaar lenkte sie auf das Meer hinaus. An sie heran trat er, um sie noch einmal eingehend zu betrachten, bevor er sich ihr gegenüber am Tisch niederließ. Sie bemerkte ihn nicht. Ihr Blick war hinaus gerichtet, wo er konzentriert verweilte. Die Schönheit des Meeres hatte sie in ihren Bann gezogen. Das Funkeln in den Augen verriet die tiefe Verbundenheit mit diesem.
Viel Zeit des Sitzens vergönnte man ihm nicht. Es kam Bewegung in die kleine Konstellation am anderen Tisch. Aus dem Inneren der Tasche holte die Frau ein tönernes, bauchiges Gefäß hervor. An die Brust drückte sie es für einige Momente, bevor sie ein stummes Nicken ihrer Begleitung schenkte. Auch der Dritte im Bunde erhob sich von seinem Platz am Tisch, um ihnen zu folgen. Den Aufbau verließen sie und schlossen die Tür, bevor sie zum Bug gingen. An der Spitze verweilten sie. Wortlos und stumm sahen sie auf das Meer hinaus. Lange Momente vergingen, bevor die Frau das Gefäß öffnete. Den Deckel verstaute sie in einer Tasche, bevor sie in das Innere griff. Es war gerade groß genug, dass ihre Hand auch Platz darin fand. Nach einem Augenblick holte sie sie wieder hervor. Eine ausladende Geste folgte. Ein Pulver warf sie in den Wind. Wieder und wieder wiederholte sie dies, bevor sie das Gefäß umkehrte, um auch die letzten Reste aus diesem zu verteilen. Er beobachtete das Spiel. Die feinen Körner, die sich mit dem Wind verbanden und von diesem hinaus auf das Meer getragen wurden, wo sie sich allmählich auf das Wassers hinab senkten, um so in der Unendlichkeit zu verschwinden. Und so verschwand auch er.