Der weiße Wanderer


28.02.2022

Es begab sich einst, als jene Anhänger des Hauses Sheppard noch neu auf dem kalten Kontinent des Nordens waren. Die Umgewöhnung an das raue, kalte Klima fiel den meisten Menschen nicht leicht, doch hielt man durch, um sich und den nachfolgenden ein neues Leben zu schaffen. Der Krieg und die Vernichtung, die man über sie gebracht hatte, versuchte man abzuschütteln wie den frischen Schnee im Norden der Grafschaft. Hoffnung war in diesen Tagen das, was die Menschen überleben ließ.

Eine der Familien hatte zwei Söhne und den Vater verloren. Die Mutter blieb allein zurück mit den beiden Töchtern und dem jüngsten Sohn, der kaum alt genug war zu sprechen. Von der restlichen Verwandtschaft wusste man nichts. So war es an der Frau allein, ihre Kinder durch diese schwere Zeit zu bringen. Glücklicherweise gab es viel Hilfe von anderen der Geflüchteten, sodass zumindest eine provisorische Unterkunft geschaffen war, in der sie mit ihren Kindern leben konnte. Mit diesem Anfang zufrieden sah sie davon ab, weitere Hilfe in Anspruch zu nehmen, da sie sich auch selbst helfen mussten.

Die Tage zogen ins Land und forderten ihren Preis. Mit jedem fielen ihr die Schritte schwerer. Das sonstige stetige Lächeln auf ihren Lippen, welches sie für ihre Kinder übrig hatte, verblasste. Immer öfter ertappte sie sich selbst dabei, wie sie gereizt auf die einfachsten Anfragen reagierte. In der Nacht, wenn sie alleine war, ließ sie den Tränen freien Lauf. Einige Wochen ging es so, in denen man ihr Hilfe anbot, sie diese aber ablehnte, aus Rücksicht auf die Probleme der anderen, aber auch aus Stolz, der sich eingeschlichen hatte. Ihre vehementen Antworten wurden dabei so grob, dass die anderen in der Ansiedlung begannen sie zu meiden. Man hatte es aufgegeben, ihr weiter Hilfe anzubieten.

Eines Tages fand ein Wanderer im weißen Mantel in die wachsende Siedlung. Mit einigen der Menschen unterhielt er sich, wobei sich schnell feststellen ließ, dass er nicht aus Gilneas stammte. Seine Herkunft allerdings wollte er nicht verraten. Wo er es konnte, half er aus und bewies dabei mehr Geschick, als es die anderen inne hatten. Am Abend lud man ihn an das Feuer, um ihm für seine Hilfe zu danken. Stets lehnte er dies wohlwollend ab, bevor er ging, um am nächsten Tag neuerlich im Dorf zu erscheinen. Auch jene alleinstehende Frau sprach er an. Seine goldenen Augen vermochten sie dabei zwar zu dämpfen, jedoch nicht gänzlich zu beruhigen. Ihre Antwort fiel harsch aus. Den Wanderer schien dies nicht zu stören. Er setzte sich auf einen Stuhl, um sie zu beobachten. Den gesamten Tag lang tat er dies, ohne dass er selbst etwas machte, bevor er am Abend in gewohnter Weise verschwand.

Der nächste Tag brach an und so erschien er wieder. Diesmal fragte er jene Frau nicht, ob er ihr helfen konnte. Vom Fluss brachte er einen Eimer frischen Wassers, wie sie es am Vortag gemacht hatte, und stellte diesen zu ihr. Als nächstes unterhielt er sich mit ihren Kindern. Eine Geschichte von großem Ausmaße erzählte er ihnen. Ihre Mutter lauschte zuerst, doch riss die Anstrengung der letzten Wochen sie in den Schlaf. Als sie am Abend wieder aufwachte, war alles erledigt, was sie sonst selbst tat. Auch gekocht hatte der Wanderer, sodass sie nach dem Aufwachen ihren Hunger stillen konnte. Ein Eintopf aus verschiedensten einheimischen Wurzeln und Köstlichkeiten war es, den er hergestellt hatte. Als Dank lud sie ihn nach dem Mahl dazu ein, im Haus zu verweilen. Zur Überraschung der anderen nahm er diese Einladung an. Bis spät in die Nacht hinein saßen sie an der kleinen Feuerstelle. Während er nur zuhörte, erzählte die Frau oftmals unter Tränen. Die gesamte Last der letzten Tage, die auf ihren Schultern ruhte, sprach sei sich von der Seele, bis sie zum Morgengrauen einschlief.

Am nächsten Morgen war der Wanderer noch immer zugegen. Diesmal war es nicht er, der das frische Wasser brachte, sondern ein anderer der Bewohner. Eine Bewohnerin nahm die Kinder zu sich, sodass die Frau sich auf etwas anderes konzentrieren konnte. Der Wanderer führte sie abseits der Siedlung. Er zeigte ihr, wo sie die Wurzeln finden konnte, mit denen er am Vortag den Eintopf gekocht hatte. Zurückgekehrt brachte er ihr bei, wie sie in ihrer Hütte für alle ein wahres Festmahl zubereiten konnte. Am Abend dann kehrte er mit ihr und dem Kessel an das Feuer. Ein jeder bekam etwas ab. Die Stimmung war so ausgelassen, dass man begann die Lieder der Heimat zu singen.

Erst spät in der Nacht löste sich die Gemeinschaft auf. Vom Glück wie betrunken konnte die Frau nicht schlafen und so suchte sie den Wanderer, um ihm noch einmal zu danken. Als sie ihn sah, begab er sich gerade auf den Weg aus dem Dorf hinaus. Von der Neugier getrieben folgte sie ihm hinein in den Wald. Dabei verlor sie ihn aus den Augen. Der Schrei eines Adlers ließ sie zusammenzucken. Nach der Quelle sah sie sich um, doch konnte sie sie nicht finden. Auch vom weißen Wanderer fehlte jede Spur. Nach längerer Suche gab sie auf, um zu ihrer Hütte zurückzukehren. Zur Ruhe bettete sie sich mit dem Wissen, dass sich nun alles zum Besseren wendete.

Nicht nur in diesem Dorf erschien der weiße Wanderer. Eine Vielzahl berichteten vom Mann im weißen Mantel. Stets half er und integrierte jene, die außen vor geblieben waren, wie er es bei der Mutter getan hatte. Er lehrte sie, dass sie nicht allein waren, niemand von ihnen, und dass in ihrer Einigkeit die größte Stärke lag, mit der sie allem trotzen konnten.