Geistergeschichte


21.10.2018

Das Geheul hallte von den hohen Deckenbalken wider. Allein stand sie in den düsteren Wänden, konnte kaum die Hand vor den eigenen Augen sehen und das immer wieder kehrende Geheul, dass sie an einen Wolf erinnerte, machte ihr Angst. Eine Quelle dessen war nicht zu sehen. Auch die Richtung, aus der die Laute kamen, konnte sie nicht erahnen, da der Widerhall ihre Sinne in die Irre lockte. Wie gelähmt verharrte sie an Ort und Stelle.

Wieder ertönte das Geheul, diesmal schien es jedoch näher. Eine Drehung um die eigene Achse machte sie, doch vernahmen die wenigen Sinne, die uneingeschränkt waren, keine Regung. Krampfhaft versuchte sie sich daran zu erinnern, wo sie war. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war die Teilnahme an einer Führung durch ein altes Haus, in dessen Räumlichkeiten sie sich gerade befand. Den Raum hatte sie mit einer großen Gruppe betreten und der Leiter der Führung hatte ihnen einiges über diesen Raum erzählt. Sie erinnerte sich daran, dass es einer der größeren Räume war, eine Art Wohnstube mit hohen Decken und wundervoll bemalten Wänden. Grob drehte sie sich in die Richtung, in der sie die Fenster vermutete, doch war weder die Kontur eines Fensters zu sehen noch irgendein Lichteinfall.

Die Augen schloss sie, es machte eh keinen Unterschied, ob sie nun nichts sah oder aber die Augen geschlossen hatte, um sich besser konzentrieren zu können. Die Bilder versuchte sie sich genau vor Augen zu halten. Interessiert hatte sie dem Leiter gelauscht, einem sympathischen Mann, der auch den ein oder anderen Scherz gern machte. War das erloschene Licht vielleicht nur ein Scherz? Nein, das konnte sie sich nicht vorstellen. Nachdem er geendet hatte und die Gruppe weiter gebeten hatte, blieb sie im Raum stehen. Ihre Augen wollten die alten Gemäuer noch etwas selbst erkunden, daran erinnerte sie sich.

Ein Zucken durchlief ihren Körper, als das Geheul erneut vollkommen unerwartet sie aus ihren Gedanken riss. Für einen Moment dachte sie, es wäre genau neben ihrem Ohr, doch schon im nächsten Moment schien es aus einer anderen Richtung zu kommen. Der Laut erstarb und sie atmete tief durch, um sich wieder zu beruhigen und das Herz, welches bis zu ihrem Hals schlug, wieder zur Ruhe kommen zu lassen. Es dauerte einige Augenblicke, ehe dies geschah und noch einmal drehte sie sich um. In ihren Erinnerungen, vor ihrem geistigen Auge, erschien eine Tür, die aus dem Raum herausführte. Sie wandte sich in die Richtung um, wozu sie eine halbe Drehung machte, denn die Tür war gegenüber dem Fenster. Es kostete sie einige Überwindung, ehe sie einen Fuß vor den anderen setzte, langsam und bedächtig, als könnte sie jeden Moment durch den harten Boden unter ihren Füßen brechen. Das leichte Knarzen begleitete jeden einzelnen Schritt.

Die Hälfte des Weges hatte sie sich durch die Dunkelheit getastet. Die wenigen Schritte, die sie gemacht hatte, kamen ihr wie eine Marathonstrecke vor. Auch ihr Herz schlug wieder so stark, als hätte sie einen solchen hinter sich und als sie das Geheul ein weiteres Mal vernahm, gefror ihr das Blut in den Adern. Es schien genau aus der Richtung der Tür zu kommen. Im Dunkel versuchte sie etwas zu erkennen, was ihr nicht gelang. Auch ihre Hände streckte sie aus, einen Widerstand aber fanden sie in ihrer Reichweite nicht. Da war nichts, redete sie sich selbst ein.

Ein plötzlicher Lichtschein aus ihrem Rücken ließ sie herumfahren. Das Licht kam nicht von den Fenstern, sondern von der Decke. Eine alte Lampe an dieser erkannte sie, die wohl gerade eingeschaltet wurde, denn sie war nur kurz aufgeflackert. Ein erneuter Laut ließ sie wieder in Richtung der Tür sehen. Mit den letzten Resten des Lichtblitzes vernahmen ihre Augen etwas. Es schien wie Haar, von grauweißer Farbe und stark gelockt wie ein Pudel. Die Erinnerung an eine Geschichte, die sich um das Haus rankte, schoss ihr durch den Kopf. In dieser Geschichte sprach man von einem Geist, der einen Pudel auf dem Kopf hatte. War es dieser Geist? Und wenn er es war, was würde er mit ihr tun? Würde sie nun ihr Leben lassen müssen, nur weil sie einmal mehr zu neugierig war?

Mit einem weiteren Aufflackern blieb das Licht erhalten und sie starrte das an, was da in der Tür stand. Viel mehr starrte sie auf den Pudel. Erst langsam begriff sie, dass es sich nicht um einen Pudel handelte, sondern um das Haar eines Mannes. Ihr Blick fuhr weiter hinab und in das Gesicht des Mannes. Es kam ihr vertraut vor und als er den Mund öffnete, vernahm sie für den Bruchteil einer Sekunde erneut ein Heulen wie von einem Wolf, der zum Mond betete.

„Was machst du denn allein hier? Deine Eltern suchen dich bestimmt schon. Husch, runter mit dir, wir machen hier gleich dicht. Mit diesen Worten kam er auf sie zu, nicht bedrohlich sondern freundlich und unterzog sie einem abschätzenden Blick. Sie musste aussehen, als hätte sie gerade wirklich einen Geist gesehen. An den Namen des Mannes erinnerte sie sich schlagartig: Wolf. Und die Geschichte des Geistes war nur ein Scherz von einem anderen Mann. Während sie dem Leiter der Führung aus dem Gebäude folgte, dachte sie sich nur, dass sie mit dem Lesen von Horrorgeschichten aufhören müsste.