Die Tauben von Erfurt


19.07.2023

Sanft strich ihm der erste warme Sonnenstrahl durch das Gesicht. Schon zuvor hatte er das Gezwitscher und Singen der Vögel vernehmen können, zu dem sich ein weiteres Geräusch gesellte, welches ihm wohlbekannt war: Das Gurren einer Taube. Die Augen öffnete er, um hinaus aus dem Fenster zu schauen. Hoch oben über der Stadt hatte er einen Ausblick, den er an jedem Morgen genoss. Er bezweifelte, dass er dessen jemals müde werden würde. Die Dächer leuchteten ihm in den verschiedensten rotbraunen Farben entgegen, während sich am Horizont die Sonne in einem tiefen Rot über den Rand der Welt schob, um mehr der Stadt in ihr wärmendes Licht zu tauchen. Die dünne Decke schlug er von sich, dann setzte er sich auf. Die Hände rieben über die vom Schlaf noch gezeichneten Augen hinweg. Ein Gähnen ließ er erklingen. Geräuschvoll schloss er den Mund. Anschließend drehte er sich auf dem Bett mehr zur Kante, setzte die nackten Füße auf den Boden und erhob sich. Ein leises Knacken gab sein Rücken von sich, welches ein weiteres Mal hörbar wurde, als er die Arme über den Kopf hinweg streckte. Tief atmete er durch. Der Sommer machte mehr und mehr dem Herbst Platz. An den Temperaturen hatte sich dabei allerdings erst wenig geändert, zu seinem Glück. Also reichte ihm das T-Shirt, dass er sich griff, um es überzuziehen. Das kleine Schlafzimmer verließ er in Richtung des Bades. Die morgendliche Routine sollte folgen. Erst schlüpfte er unter die Dusche, dann putzte er sich die Zähne und kehrte schlussendlich in das Wohnzimmer zurück. Durch die Fenster fiel das rote Licht. Schatten warf es an die Wand, aus denen seine Fantasie im Nu Figuren machte. Schon oft hatte er auf seinem Sofa gesessen, um sie zu beobachten und sich vorzustellen, was sie sein könnten. Im Vorbeigehen streiften seine Finger über die Rückenlehne hinweg. Die Schritte führten ihn zur Balkontür, die er öffnete. Ein warmer Schwall frischer Luft kam ihm trocken entgegen. Die Augen schloss er für einige Lidschläge und öffnete sie erst wieder, als ihn das erneut erklingende Gurren dazu veranlasste. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er hinaus auf den Balkon, auf dem nur ein einsamer kleiner Tisch und ein Stuhl standen. Trotz dieser Einfachheit war es einer seiner liebsten Plätze. Die Quelle des Gurrens legte den Kopf schief, um ihn anzublicken. Als er sich ihr näherte, schwang sich die Taube in die Lüfte. Einige Momente sah er ihr noch nach, bevor er sich auf den Stuhl setzte, wie er es so gut wie jeden Morgen tat. Die Ellenbogen stützte er auf der dünnen Platte aus Plastik auf. Den Kiefer legte er in dieser Haltung in die Hände, um der Sonne bei ihrem Aufstieg zuzusehen. Einige Minuten vergingen, bevor er leise damit begann zu summen. Dieses wuchs immer weiter an. Das Singen hatte er sich nie getraut, aber die Musik war schon immer einer seiner wichtigsten Begleiter. Aus diesem Grund war er förmlich abhängig von ihr.

„Nun halt endlich’s Maul!“, mischte sich eine Stimme in das Summen ein, die ihm ebenso bekannt war, wie das Gurren der Tauben, nur bei Weitem nicht so lieb. Die Lider ließ er sinken. Er dachte nicht daran, aufzuhören. Stattdessen ließ er das Summen anwachsen, sodass sich der Beschwerende noch mehr daran erfreuen konnte. Oder auch nicht. Er zuckte zusammen, als der Nachbar wuchtig auf das Geländer schlug. Genügend Masse dafür besaß er.

„Gesindel wie du woll’n wir hier nicht. Geh arbeit’n, wie jeder normale Mensch.“, umwehten die nächsten Worte seine Ohren, wie ein Sturm, der ihn versuchte, in eine Richtung zu drängen. Schon seit Jahren hatte er sich diesem entgegen gelehnt. Damit wollte er auch an diesem Tag nicht aufhören. Den Kopf hob er, dann öffnete er die Augen und sah hin zum älteren Herrn, der nur mit einem Unterhemd bekleidet auf seinem Balkon stand. Das schüttere Haar hing ihm unsauber ins rundliche Gesicht. Man hätte ihn genauso gut für Gesindel halten können, wie er ihn nannte. Irgendwann hatte er aufgehört, dem Mann zuzuhören. Mehr als seine üblichen Hasstiraden konnte er ohnehin nicht von sich geben. Noch immer summend sah er ihn an. Es war unschwer zu erkennen, dass er sein Ziel erreichte. Der Kopf des Mannes wurde rot. Ein weiteres Mal schlug er auf das Geländer seines Balkons. Eine kleine Kluft trennte beide voneinander, sodass er keine Angst haben musste, dass er gleich hinüberspringen würde. Mit seinem dicken Bauch hätte er dies ohnehin nicht geschafft.

„Irgendwann ruf ich die Bull’n und dann kannst‘ was erleb’n!“, schimpfte er, während er sich umwendete. Fast an jedem Morgen war es das gleiche Schauspiel. Zuerst beschwerte sich sein Nachbar über ihn, dann konnte man hören, wie der Fernseher eingeschaltet wurde, ebenso in diesem Moment. Die Lautstärke wurde erhöht, um das Summen nicht mehr hören zu müssen. Er ließ es dennoch nicht verklingen. Stattdessen erhob er sich von seinem Platz, um in das Schlafzimmer zu gehen. Für den Tag würde ihm das T-Shirt nicht reichen. Seinen Kleiderschrank öffnete er aus diesem Grund. Lange brauchte es nicht, da stand er mit einer alten, lädierten Hose in schwarzer Farbe vor dem Spiegel am Schrank. Das dunkelgrüne Shirt zog er gerade. Einmal sah er noch auf die dunkelblonden Haare, in denen die schwarze und graue Tönung noch leicht zu erkennen waren. Bis zu den Ohrläppchen reichte die Länge. Es war zwar nicht vollkommen akkurat, aber für diesen Tag würde es reichen. Gesindel wie er musste sich immerhin nicht schick machen.

Das nächste Ziel war die Tür. Mit dem Schlüssel in der Hand verließ er seine Wohnung. Nachdem er abgeschlossen hatte, trat er den kurzen Weg zum Fahrstuhl an, wobei er auch an der Wohnungstür seines Nachbarn vorüberkam. Das Fernsehprogramm war lautstark durch diese zu hören. Man hörte fallende Schüsse, Beleidigungen und das Quietschen von Autoreifen. Das Summen hatte er ausgeblendet, damit aber auch, wann es endete. Schon einige Male hatten sich die umliegenden Bewohner des Hauses über den Mann beschwert oder gar die Polizei verständigt, schallte der Fernseher immerhin nicht nur am Morgen so laut. Mit einem Schütteln des Kopfes schob er sich in den Fahrstuhl hinein. Einen Tastendruck später setzte sich dieser in Bewegung. Einige Etagen ging es nach unten, bis sich die Türen wieder öffneten, sodass er erst in den Hausflur, dann auch endlich in die Freiheit treten konnte. An einer Frau kam er dabei vorüber, die mit ihrem Kind an der Hand gerade den Schulweg antreten wollte. Sie machte ihm Platz. Noch einige Momente konnte er ihren Blick im Rücken spüren. Was sie dachte, war ihm egal. Er kannte sie nicht. Er hatte auch kein Bedürfnis, sie kennenzulernen.

Graue Wohnungsblocks umgaben ihn. Spärlicher war das Grün mittlerweile, hatte der harte Sommer es verbrannt, sodass es in einem hellen Gelb leuchtete, wie das Weizen auf den Feldern, die er vom Fenster seiner Wohnung aus sehen konnte. Von einigen Bäumen waren nur noch die Stümpfe über, da man gezwungen war, sie zu fällen. Ob man sie ersetzen würde, das wusste keiner. Einmischen wollte und konnte er sich dabei nicht. Dass es jemanden gab, der sich damit beschäftigte, ohne nur stetig zu meckern, bezweifelte er.

Einen Fuß setzte er vor den anderen. Den mit großen Platten ausgelegten Weg ging er entlang. Einige der Steine waren gebrochen, andere hatten Löcher und weitere Zeichen der Zeit. Schon lange hatte man sie nicht mehr ausgetauscht. Auch, weil sie zum gewohnten Erscheinungsbild der Gegend gehörten. Würde man sie austauschen, wäre es nicht mehr diese Wirkung, dieser Anblick, der gerne auch einen bestimmten Schlag von Menschen herbeibeschwor. Wahrscheinlich würden sie dann nicht mehr in ihre Heimat zurückfinden.

Weiter und weiter ging er, dabei mal summend und mal die Leute beobachtend, die ihm auf der Straße entgegenkamen oder auf der anderen Seite ihr Ziel versuchten zu erreichen. Lange brauchte es nicht, da konnte er die Straßenbahnen auch sehen, die er zuvor nur gehört hatte. Hinter den Fensterscheiben konnte man Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit sitzen sehen, vertieft in ihre Handys, mit Stöpseln in den Ohren, sodass sie nichts von ihrer Umwelt bemerkten. So sehr er auch Musik liebte, verzichtete er doch darauf. Eine stetige Beschallung brauchte er nicht. Viel mehr lauschte er den Klängen in seinem Kopf, den Melodien, die er nur für ihn zusammenführte. Hätte er versucht zu singen, so wären die Melodien zerstört gewesen. Er war nun einmal kein Singvogel.

Der Schienenführung durch die eng aneinander liegenden Reihenhäuser folgte er, vorbei am Irish Pub, einem Copyshop und weiteren Geschäften, bis er hin zum großen Platz kam, der das Herz seiner Stadt darstellte. Zwischen erhabenen Gebäuden von beachtlichem Alter stach der gläserne Bau an der Ecke heraus. Durch die Fenster hindurch konnte man unzählige Regale mit Büchern erkennen. Ein Laden, der für ihn nicht von Interesse war. Das letzte Mal, dass er ein Buch in der Hand hatte, war lange her und vor allem war dies auch nicht freiwillig.

„Hey, pass doch auf!“, hörte er die Stimme, als jemand gegen seinen Rücken stieß. Da er sein Ziel erreicht hatte, war er stehen geblieben, ohne dabei hinter sich zu schauen. Dies tat er in diesem Moment auch nicht. An ihm vorbei trat eine junge Frau, die ihm noch einen bösen Blick schenkte, bevor sie hin zu einer der haltenden Bahnen stürmte. Die Tür erreichte sie. Er beobachtete, wie sie ins Innere drängte. Mehr als eine ganze Minute brauchte es, bevor sich die Türen schlossen. Die Bahn fuhr los. Ihre Eile war nicht nötig gewesen.

Seinen Blick ließ er schweifen. Etwas Neues hatte er schon länger nicht mehr gesehen. Es hielt ihn nicht davon ab, sich in Bewegung zu setzen. An den Schaufenstern schlenderte er vorüber, ohne dass er eines der Geschäfte betrat. Wann immer ihm etwas hinter den Scheiben in das Auge stach, was ihm gefiel, klopfte er ein paar Mal mit dem Zeigefinger gegen das Fenster. Einmal erschreckte er dabei eine Verkäuferin. Es war der zweite böse Blick des Tages. Das Geschäft verließ sie aber nicht, um ihn zur Rede zu stellen. Dafür hatte sie auch viel zu viel Arbeit, wie man an der Fülle der Kunden erkennen konnte.

Der höchste Stand der Sonne war schon seit geraumer Zeit erreicht, als er zurück zum Anger kehrte, jenem Ursprungsort seines Schaufensterbummels. Auf einer der Bänke ließ er sich nieder. Die Beine überschlug er, dann lehnte er sich zurück und sah hinauf in den Himmel. Kleine Wolken zogen flink wie eine Herde Schafe auf einer blauen Wiese über ihn hinweg. Lange blieb er nicht alleine. Eine Gruppe von Jugendlichen sammelte sich in seiner Nähe. Es war nicht das erste Mal, dass er sie sah. Jene Halbstarken, die ihren Rausch darin suchten, andere zu erniedrigen. Alkohol, Zigaretten oder andere Substanzen reichten ihnen nicht mehr. Mit einem Lachen kündigte sich ihr Vorhaben an. Zwei der Jungs traten an die Bank heran, wie er schon aus dem Augenwinkel vernehmen konnte.

„Na du Loser, hängst hier wieder ab? Willst‘ nicht lieber woanders hin? Oder braucht dich etwa keiner?“, sprach einer der Jungen, der sich direkt vor ihm aufbaute. Der zweite trat neben ihn. Marken prangten groß wie auf Werbetafeln auf ihrer Kleidung. Sonnenbrillen trugen sie in den gegelten Haaren.

„Natürlich braucht den keiner. Dreck unter’m Schuh braucht keiner. Also verpiss dich hier!“, forderte der zweite ihn auf. Die Aggressivität in seiner Stimme passte nicht zum glattgeleckten Äußeren. Sein Gesicht war sanft wie das einer Elfe, ganz im Gegensatz zu seinem Auftreten.

„Hast‘ nicht gehört? Wir wollen hierhin.“, setzte der erste dann noch nach. Mit einem Seufzen erhob sich der Angesprochene von der Bank. Einmal mehr ließ er sie gewinnen. Er hatte keine Lust auf Ärger, mal wieder. Dafür gab es genügend andere, die sich davon provozieren ließen, bis es eskalierte. Mittlerweile war es normal. Zudem zeigte schmächtige Statur deutlich, dass er selbst einem der Jugendlichen allein unterlegen war. Das Lachen erklang wie Beifall nach einem gefallenen Vorhang, als er von der Bühne ging. Die Schienen der Straßenbahn überquerte er, hin zur anderen Seite, und sah sich nach einem neuen Aufenthaltsort um.

Einige Minuten brauchte er, um sich zu entscheiden. Gerade wendete er sich um, da legte man eine Hand auf seine Schulter. Sanft war die Berührung, wohlwollend und anders als seine vorigen Begegnungen. Als er über die Schulter hinwegsah, konnte er das Gesicht der älteren Dame erblicken, die ihm schon einige Male ausgeholfen hatte. So tat sie es auch in diesem Moment. Ohne ein Wort von sich zu geben, hielt sie ihm eine Tüte aus Papier entgegen, auf der ein großes M stand, womit der Inhalt bewusst war. Mit einem dankenden Lächeln nahm er es entgegen. Worte brauchte es nicht. Stattdessen entfernte sich die Dame auch schon wieder, um in einer der Bahnen zu verschwinden, die gerade Halt auf dem großen Platz machte. So schnell sie gekommen war, so schnell ging sie auch wieder. Diesmal blieb sie nicht auf der Bank neben ihm sitzen und beobachtete ihn, wie er ihr Geschenk verspeiste. Das zufriedene Lächeln auf ihren Lippen dabei hatte er dennoch vor Augen.

Einmal mehr sah er sich um, entschloss sich aber dafür, die andere Seite zu meiden. Dies bedeutete zwar, dass er sein Mahl im Stehen einnehmen musste und nicht auf einer der Bänke, aber das war ihm recht. Er hatte keine Lust darauf, einmal mehr von den Halbstarken vertrieben zu werden oder gar seine Mahlzeit wegen diesen zu verlieren. Also stellte er sich an die bekannte Ecke, über der eine große Uhr hing. An die Wand gelehnt entpackte er das Geschenk, um im nächsten Moment hungrig in dieses zu beißen. Zwar schlang er nicht, aber er ließ sich auch nicht besonders viel Zeit mit dem Essen. Stück für Stück schwand der kleine Vorrat, bis nur noch die leere Papiertüte in seiner Hand verblieb, die er zerknüllte. Frisch gestärkt kehrte auch sein Mut zurück. Die Bahnschienen überquerte er. Der laute Ruf eines Jugendlichen, der eindeutig an ihn gerichtet war, wurde von ihm ignoriert. Noch nicht einmal hören konnte er, was er sagte. Die zusammengeknüllte Papiertüte warf er im Vorbeigehen in einen der Papierkörbe, auch wenn er sie am liebsten seinen vorigen Peinigern an den Kopf geworfen hätte. Sein nächstes Ziel war der Trinkbrunnen, der inmitten auf dem großen Platz seine Dienste anbot. Mit den ersten Schlucken wusch er sich grob die Hände, dann formte er diese zu einer Schale, um etwas des kühlen Nass die Kehle herabfließen zu lassen. Große Schlucke waren es, die er nahm. Nachdem er fertig war, schüttelte er die Hände aus, die er provisorisch dann an der Hose trocknete. Dank der Temperaturen störte ihn die Feuchte nicht weiter. Im Gegenteil, sie war sogar angenehm.

Einmal mehr war er nach der Stärkung ohne ein Ziel. Wie von selbst trugen ihn die Schritte weiter, hinab von dem großen Platz und die Häuserschlucht entlang. Einige Menschen kamen ihm dabei entgegen, denen er auswich. Das Summen kehrte wieder. Diesmal gab es niemanden, der sich darüber beschwerte. Beachtung schenkte ihm hier immerhin niemand. Weiter trugen ihn die Füße, hin zum Platz, auf dem das alte Rathaus in seiner vollsten Pracht stand. Wie er es öfter schon getan hatte, besuchte er seinen römischen Freund. Neben diesem stehend betrachtete er die kunstvollen Verzierungen des großen Gebäudes gegenüber. Die Architektur war neben der Musik sein zweites großes Interessengebiet. In dieser Stadt gab es davon genügend zu sehen, nein, zu bewundern. Mehr Wolken sammelten sich derweil am Himmel. Die Sonnenstrahlen erstarben in regelmäßigen Abständen, doch vergingen sie nicht gänzlich. Etwas verblieb er noch am Fuße der Statue, dann setzte er sich auf eine der Bänke. Seine hauptsächliche Aufmerksamkeit galt zwar dem Rathaus, doch wann immer einige der Passanten näherkamen, sah er zu ihnen, in der Hoffnung, dass sie ihn nicht von der Bank vertreiben würden. Letztendlich war er es selbst, der dies übernahm. Wenn er dieses Bauwerk bewunderte, so wollte er es auch bei einem zweiten, für das die Stadt bekannt war. Die Schienen überschritt er auch hier. Deren Führung sah er nach, hin zum großen Gotteshauses, welches man in einiger Entfernung durch die Häuserschlucht erahnen konnte. Dieses war ihm schon immer eher unheimlich gewesen, selbst wenn es eines der größten architektonischen Werke war. Für ihn hatte es zu viele Zacken und Spitzen. Sogar die Bögen waren mit Spitzen versehen. Aus diesem Grund hatte er sich nie lange dort aufgehalten. Stattdessen ging er genau in die andere Richtung.

Musik drang an sein Ohr, als er sich dem kleinen Platz näherte. Er brauchte nicht viele Takte, um zu bemerken, dass es sich um keinen guten Straßenmusiker handelte. Viel zu oft verspielte er sich, fand nicht den richtigen Takt oder sang sogar eine falsche Textzeile. Schon im Vorbeigehen konnte er es bemerken. Trotzdem gab es einige Menschen, die sich um den ‚Künstler‘ versammelt hatten. Schnell ließ er die Szenerie hinter sich. Die gepflasterte Straße mit dem steilen Aufstieg ging er hinauf. Von diesem Blickpunkt konnte man nur schwer erahnen, um was es sich dabei handelte. Die große Masse an Menschen, die die schmale Straße entlang ging, welche einen förmlichen Buckel bildete, war Anzeichen genug dafür, dass es sich um eine der größeren Attraktionen der Stadt handelte. Nicht gänzlich überquerte er den Buckel. In eine kleine Gasse trat er vorher, die Treppe hinab und somit in das Freie. Einige Schritte noch, dann drehte er sich. Vor ihm erstreckte sich damit die Schönheit der bebauten Brücke. Hier und Da hatte sie einige kleinere Schönheitsfehler, die auch dem Alter zu verdanken waren, doch war sie zum größten Teil in einem sehr guten Zustand. Dafür sorgte man stets. Etwas, wofür er der Stadtführung dankbar war. Einer der sehr wenigen Punkte. Während die Menschen an ihm vorüber strömten, wie an einem Felsen inmitten eines Flusses, betrachtete er in aller Ruhe den Bau. Jeden einzelnen Balken des Fachwerkes kannte er. Wann immer sich auf den Balkonen etwas änderte, bemerkte er es, selbst wenn es sich nur um eine neue Blume handelte. Ein Lächeln trug er dabei auf den Lippen.

Wie lange es genau brauchte, bevor er sich wieder bewegte, konnte er nicht sagen, doch war es ihm auch egal. Stattdessen folgte er den Wegen durch die Hochbeete, wo sich einst eine große, freie Fläche befand. Jene Fläche, auf der Märkte stattfanden, besonders die mittelalterlichen, die er als Kind liebte. Kein Jahr verging, an dem er nicht den Rittern dabei zusah, wie sie ihre Waffen präsentierten, um sich dann mit diesen zu messen. Schon immer hatte er davon geträumt, irgendwann einmal selbst eine solche Waffe in der Hand zu haben. Es hatte sich nie ergeben. Stattdessen war die Zeit des Mittelalters in dieser Stadt ein zweites Mal vergangen. Diesmal jedoch wesentlich schmerzvoller. Niemand war da, der sie zurückbringen wollte. Jedenfalls gab man es so aus. Mit einem Kopfschütteln vertrieb er den Gedanken.

Das Gasthaus, welches sich auf seinem Weg befand, war einmal mehr gut gefüllt. Es gab kaum Plätze auf der Terrasse, die nicht besetzt waren. Man konnte Gespräche hören, Lachen und gelegentlich auch die Musik, die allerdings merklich in den Hintergrund geriet. Wenn es ruhiger war, hatte er sich oft auf die Hochbeete gesetzt, um den Klängen zu lauschen. Diesmal wollte er es nicht. Durch den Torbogen trat er, dann bog er ab, um die Brücke zu überqueren. Auf der anderen Seite des kleinen Flusses sah er nach links. Einige Momente brauchte er, bevor er sich dafür entschied, einfach auf die Wiese zu treten. Eine Decke brauchte er nicht, um sich auf sie zu setzen. Die Hände stützte er hinter sich im Gras ab, während er den Blick wieder zur Brücke wendete. Sanft kitzelten die Halme seine Handflächen. Die Strahlen der Sonne wärmten ihn, während die Schatten der Wolken ihm Kühle brachten. Lange saß er einfach so da, geradeaus sehend oder starrend viel mehr. Erst als er eine Stimme vernahm, regte er sich. Über die Schulter hinweg sah er. Von dort, woher auch er gekommen war, bewegte sich eine junge Frau über die Brücke hinweg an die Erhöhung heran. Je näher sie trat, desto mehr konnte er das Summen hören. Der Wind strich ihr durch die kupfernen Locken, die das runde Gesicht umspielten. Sie war nicht auffällig oder gar aufreizend gekleidet. Ein einfacher Rock, ein weiteres Shirt und einige bunte Bänder am Handgelenk.

„Und sie träumt, von Chicago.“, konnte er vernehmen, als der Wind drehte, als wolle er ihn genau wissen lassen, was sie mittlerweile leise vor sich hinsang. Die Knöpfe in ihren Ohren verrieten den Grund dafür. Ihre Stimme war dabei klar wie der Klang einer Glocke. Nicht zum ersten Mal hörte er sie und er hoffte, dass er es auch nicht zum letzten Mal sein würde. Da sie gelegentlich auch in Begleitung unterwegs war, mit der sie sich unterhielt, hatte er mitbekommen können, dass es sich um eine Musikstudentin handelte, die eigene Lieder schrieb. Leider hatte er nie hören können, ob sie denn irgendwo auftrat. Wahrscheinlich würde er sie nur hören können, wenn er sich in die Universität einschreiben würde, doch lag ihm dies fern. Zudem bezweifelte er, dass man ihn überhaupt zulassen würde, nicht zuletzt durch seinen schlechter ausfallenden Schulabschluss. Immer wieder trug der Wind Fetzen des Liedes zu ihm. Die Finger klopften im Gras den Takt mit. Sie war nicht allein mit ihrer Vorliebe für dieses Lied. In seinem Kopf formten sich Bilder, die ihm eine Zukunft gemeinsam auf der Bühne zeigten. Ein Ruck ging durch seinen Körper, als wolle er sich erheben. Doch er blieb sitzen. Den Drang, aufzustehen, um zu ihr zu gehen, unterdrückte er. Er kämpfte ihn geradezu nieder. Sie würde ohnehin nichts von ihm wissen wollen. Noch nicht. Irgendwann würde er mit seiner Gitarre genau an diesem Ort auf sie warten. Nur für sie wollte er dann das Lied spielen, um sie zu beeindrucken und, wenn dies gelang, sie zum Singen überreden, damit er sie endlich einmal vollkommen hören konnte. Dieser Tag lag allerdings noch weit entfernt. Er fühlte sich noch nicht bereit dazu. Die Tasche nahm sie von der Anhöhe, dann sah sie zu ihm. Ein Lächeln konnte er auf ihren Lippen erkennen. Ob es ihm galt oder nicht, war schwer zu sagen. Als sie sich kurz darauf umwendete, ging er allerdings davon aus, dass es nicht für ihn bestimmt war. Sein Blick folgte ihr. Mit einem Seufzen schloss er die Augen. Die Finger krallten sich in das Gras hinein. Er musste sich beherrschen, keine Büschel herauszuziehen. Die Pflanzen konnten nichts für seinen mangelnden Mut.

Hunderte von Schrittpaaren gingen an ihm vorüber, bevor er die Augen öffnete. Von seinem Platz erhob er sich. Nun war es etwas anderes, was ihn leitete oder geradezu trieb. Um den Drang nachzugeben, ging er zurück in Richtung des Torbogens. Diesmal bog er aber von der ersten Brücke ab, um der Landzunge zu folgen. Die Stimmen hinter ihm verstummten. Der Weg war weniger besucht als die anderen. Als er sich sicher war, nicht beobachtet zu werden, schlug er sich in einen der Büsche, aus dem er erst zwei Minuten später wiederkehrte, nur um in das Gesicht einer wütenden Frau zu blicken.

„Schon wieder. Noch einmal, Freundchen, und ich zeig‘ dich an.“, warf sie ihm drohend entgegen. Einen Besen hielt sie in der Hand, mit dem sie wohl gerade irgendwo gekehrt hatte, oder aber bewusst diesen als Waffe gegen ihn benutzen wollte. Statt sich zu wehren, drehte er sich um. In die entgegengesetzte Richtung lief er, wurde immer schneller und rannte schlussendlich.

Die Sonne verschwand hinter dem Horizont, als er die Tür zu seiner Wohnung öffnete. Die letzten Momente auf der Straße waren nicht anders als jene zuvor. Ohne Ziel war er umhergelaufen, hatte sich dort niedergelassen und dann wieder vertreiben lassen, ein paar bekannte Gesichter gesehen und mit ihnen gesprochen, bis er sich entschloss, dass es Zeit für den Heimweg war. Der Schlüssel landete auf seinem Platz neben der Kommode, bevor er sich tiefer in die Wohnung begab. Umziehen brauchte er sich nicht. Es war zwar warm gewesen, doch nicht so warm, als dass er gleich aus seiner Kleidung unter die Dusche schlüpfen wollte. Es würde noch bis zum nächsten Morgen warten können. Stattdessen begab er sich zur Balkontür hin. Mit jedem Schritt, den er auf diese zutrat, wurde das Summen bereits lauter, welches er von sich gab. Ein leises Quietschen begleitete das Öffnen der Tür. War er zuvor erst von draußen gekommen, so betrat er dieses nun wieder. Ein Blick hin zum anderen Balkon verriet ihm, dass der Nachbar zwar da war, aber scheinbar ihn noch nicht gehört hatte. Das flackernde Licht des Fernsehers, welches sich auf der Umrandung des Balkons widerspiegelte, war Zeichen genug dafür. Einen genaueren Blick wollte er auf den anderen Vorsprung werfen. Näher zur eigenen Umrandung begab er sich. Erst konnte er ein leises Platschen hören, als er den Fuß aufsetzte, dann spürte er, wie ihm der sichere Stand entglitt. Sich festzuhalten schaffte er nicht. Für normales Wasser war die Pfütze zu rutschig. All dies ging ihm durch den Kopf, bevor er mit dem hinteren Teil dessen auf der Stufe der Balkontür aufschlug. Schmerz durchfuhr seinen Körper. Die Hand hob er, ließ sie allerdings gleich wieder herabfallen, als ihm die Kraft versagte. Er konnte spüren, wie sein Nacken feucht wurde. Den Rücken lief es ihm hinab, während er mit großen Augen an die Decke des oberen Balkons blickte. Die Lippen standen weit offen. Ein Wort brachte er über diese nicht mehr hinweg, nur ein schmerzerfülltes, gequältes Stöhnen.

„Geschieht dir recht, Abschaum!“, konnte er dumpf vernehmen. Sein Nachbar war noch nicht einmal auf den eigenen Balkon getreten, um die Worte direkt an ihn zu richten. Das Schließen der Tür konnte er hören. Sein Innerstes wollte nach Hilfe schreien, doch brachte er nicht mehr als ein erneutes Stöhnen von sich, leiser dabei aber als das vorige, sodass sich der Mann von nebenan auch nicht darüber beschweren konnte. Die Sicht trübte sich ein. Mehr der Flüssigkeit konnte er über seinen Rücken rinnen spüren. Auch die Fingerspitzen auf dem Boden wurden nass. In den Himmel sah er, der sich weiter verdunkelte. Das Schlagen von Flügeln konnte er hören. Ein Drehen des Kopfes schaffte er nicht mehr. Als wüsste es die Taube, schritt sie über das Geländer hinweg, genau in sein Sichtfeld hinein. Den Kopf legte sie schief, um ihn zu betrachten. Ein leises Gurren gab sie von sich, wie ein Schlaflied. Kleiner wurde das Bild, welches er von ihr sah. Ihre Laute drangen immer mehr wie durch eine dicke Mauer an sein Ohr heran. Es wandelte sich langsam. Aus dem Gurren wurde leiser Gesang einer Stimme, die ihm sehr bekannt war: „Ich komm‘ nie mehr.“