01.05.2024
Hinter ihm schlossen sich die Türen. Das übliche Geräusch, welches sie dabei machten, war aufgrund der Kopfhörer auf seinen Ohren nicht für ihn zu hören. Die Musik war in mittlerer Lautstärke, doch laut genug, um den Rest seiner Umgebung auszublenden, wie er es am frühen Morgen meistens tat. Ebenso war dies der neuesten Technologie zu verdanken. Mit einem zufriedenen Blick durch die Stadtbahn stellte er fest, dass sein Platz frei war, auf den er ohne Weiteres zuging. Jeden Morgen wählte er den gleichen, weil er sich so am wohlsten fühlte. Zwischen die beiden Bänke schob er sich. Den Rucksack nahm er von den Schultern, um ihn unter dem Sitz zu verstauen, auf den er sich dann setzte. Sogleich ließ er sich ein Stück weit hinabsinken, um so eine bequemere Position einzunehmen, so gut es ihm möglich war dank der vorderen Bank. Ein Seufzen unterdrückte er gerade so. Er mochte es nicht, zu offen seine Gefühle zu zeigen und dies gehörte dazu. Außerdem war er lieber unauffällig in der Öffentlichkeit. Gerade als er den Blick aus dem Fenster hinaus wendete, setzte sich die Stadtbahn wieder in Bewegung. Hören konnte man es nicht, doch umso besser spüren. Es war ein schönes Gefühl für ihn, nahe der Schwerelosigkeit, auch wenn er wusste, dass es bei Weitem nicht so war. Es hatte eigentlich nur sehr wenig damit zu tun.
Ins Innere der großen Stadt ging die allmorgendliche Reise. Silhaine, seine Heimat, die sich weit ausbreitende Stadt am mit Wald bewachsenen Silberberg, woher sie auch ihren Namen hatte. Die äußeren Bezirke, mehr kleine Vorstädte, welche dünner besiedelt waren und größtenteils mit Ein- oder Zweifamilienhäusern besetzt, wichen langsam schon den ersten Wohnblöcken, die mit viel Glas und Grün verziert waren. Im Sommer sorgte dies für eine angenehme Kühle und im Winter für weniger Wärme, die benötigt wurde, um sich im Inneren der Gebäude wohlzufühlen. Außerdem ließ es die Stadt durchgängig natürlich erscheinen und nicht wie eine Betonwüste, wie es in Städten über dem Atlantik der Fall war. Etwas, worauf man im grünen Herzen Deutschlands noch einmal besonderen Wert legte.
Am Stadtrand hielt die Bahn an. Zwar konnte er nicht die Durchsage verstehen, allerdings vernahm er die Stimme aus den Lautsprechern, die den Namen der Haltestelle nannte, wie ein weit entferntes Flüstern. Die Türen öffneten sich. Weitere Beachtung schenkte er dem nicht. Keine Minute brauchte es, bevor sich das Verkehrsmittel mit einem sanften Ruck in Bewegung setzte, um die Fahrt ins Stadtzentrum fortzusetzen. Die Wohnblöcke wuchsen auf dieser an. Von drei Etagen zu vier, dann zu sechs und acht, als würde man durch ein altes Familienalbum mit Bildern der Kinder blättern, die langsam erwachsen wurden. Dank der erhöhten Position der Stadtbahn wirkten die Gebäude wesentlich kleiner, als sie eigentlich waren. Viele Male war er schon zwischen ihnen hindurch gelaufen und hatte sich davon selbst überzeugen dürfen. Oder müssen. Allzu oft und vor allem gerne hielt er sich nicht in diesem Viertel auf.
Auch einige der ikonischen Bauten zeigten sich, wo sie über die Dächer ihrer Umstehenden ragten. Jener, auf den er zusteuerte, war durch seine Größe im relativen Zentrum der Stadt bereits gut ersichtlich. Dabei handelte es sich um eine der neuesten Errungenschaften der grünen Großstadt. Der Turm, der seine Arbeitsstätte beherbergte, war schon von weit außerhalb zu erkennen, wie er über die Dächer der zumeist älteren Gebäude des Stadtkerns ragte. Auch die hohen Kirchtürme konnte er dabei locker überwinden. Die Stadt war noch nicht so alt, als dass sie eine große, mittelalterliche Altstadt aufwies, wie es zum Beispiel die Landeshauptstadt tat, aber ihre Geschichte reichte mehr als drei Jahrhunderte zurück und gab genügend Möglichkeit, um in der Mittagspause durch die engen Gassen zu schlendern. Es war eine schöne Abwechslung zur ansonsten eher tristen Arbeit, der er tagtäglich nachging. Die mangelnde Kreativität bei der Entwicklung von simplen Programmen konnte es geringfügig ausgleichen. Eigentlich hatte er sich vorgestellt, bei der Spielentwicklung zu arbeiten. Nein, es war nicht nur eine Vorstellung, es war ein Wunsch, ein Traum sogar. Einer dieser Entwickler befand sich mit im Turm, doch leider hatte er keine Verwendung für seine Fähigkeiten und so hatte er sich für die zweitbeste Möglichkeit entscheiden müssen. Nicht nur einmal war er mit sehnsüchtigem Blick an den großen Fenstern hängen geblieben, hinter denen kreative Werke entstanden, an denen er gerne teil gehabt hätte. So blieb ihm nur die Hoffnung, dass man auf sein in der Freizeit geschaffenes digitales Werke aufmerksam würde. Ein kleines Spiel, an dem er schon seit seiner Schulzeit arbeitete. Begonnen hatte alles im Informatikunterricht. Das war fast schon ein Jahrzehnt her. Nun war es seine liebste Beschäftigung, wenn es seine Zeit erlaubte.
Ein weiterer Halt ließ die Bahn stoppen und wieder war die Stimme aus dem Lautsprecher zu vernehmen, die keine Chance gegen die Musik auf seinen Ohren hatte. Nur geringfügig konnte er sie durch die Klänge der akustischen Gitarre hindurch vernehmen. Als der sanfte Gesang einsetzte, war sie gänzlich verstummt. Mit einem Ruck setzte sich sein Vehikel nach etwas mehr als einer Minute erneut in Bewegung. Nun, wo sie mehr in die Stadt kamen, füllten sich auch die Sitze. Zum Glück hatte sich noch niemand neben ihn setzen wollen. An anderen Tagen war dies bereits öfter geschehen. Er war zwar nicht menschenscheu, doch hatte er am Morgen lieber seine Ruhe. Eine seiner Eigenheiten, von denen sein Umfeld wusste und es akzeptierte. Seine Kollegen sprachen erst nach zehn Uhr mit ihm, wenn es sich bis dahin vermeiden ließ. Dafür begegnete er ihnen dann umso freundlicher. Das, was man ihm auftrug, erfüllte er und so hatte er auch nie trotz dieser Eigenheit Probleme mit seinem Vorgesetzten. Ein kurzes Lächeln zeigte sich bei dem Gedanken auf seinen Lippen. Sein Chef, mittlerweile auch ein guter Freund und einer der Gründe, warum er überhaupt noch dort arbeitete, nannte ihn deswegen gerne den Morgentroll. Dieser Begriff hatte es mittlerweile bis in sein Spiel geschafft.
Die Gebäude rauschten vorbei. Direkt in der Stadt standen sie näher an den Gleisen der Bahn, sodass man ins Innere einiger Fenster sehen konnte, die nicht von Gardinen oder anderem Sichtschutz verhangen waren. Dank der Geschwindigkeit war es viel zu wenig Zeit, um wirklich etwas erkennen zu können. Leben befand sich aber hinter all den Scheiben. Keine einzige der Wohnungen stand leer. Die Beliebtheit der Stadt war der grundlegende Auslöser dafür. Es gab genügend Arbeit, gute Unterhaltungsmöglichkeiten und nur wenige Probleme. Ein idealer Ort zum Leben. Deswegen würde er so schnell die Stadt auch nicht verlassen. Dafür musste anderes passieren. Etwas, was das Bild der Stadt für immer verändern würde.
Gerade als das Lied auf seinen Ohren zum Ende kam, hielt die Bahn und so war die Stimme nun deutlicher zu vernehmen, ebenso das Lachen von Kindern, welches ihn seinen Blick über die Schulter richten ließ. Eine Familie stieg gerade ins Innere. Eine junge Frau, ihr Mann und an den Händen jeweils ein Junge und ein Mädchen im Alter von sechs Jahren. Beim Schätzen war er allerdings nie gut. Weiter hinten im Gang konnte er ein weiteres Pärchen erkennen, jünger noch und ohne Kinder. Wie sie aneinander hielten, zeigte deutlich, dass sie frisch verliebt waren oder das Glück hatten, den richtigen Partner fürs Leben gefunden zu haben. Die Köpfe steckten eng beieinander und obwohl sie sich weiter entfernt zu ihm befanden, konnte er doch die von Zuneigung überquellenden Blicke erkennen. Diesmal konnte er das Seufzen nicht unterdrücken, mit dem er sich wieder in den Sitz fallen ließ, nachdem er seine Beobachtung abgeschlossen hatte. Das Blut schoss ihm dabei in die Wangen. Instinktiv ging seine Hand in die Hosentasche, hin zum Happ, jenes kleinen handlichen Apparates, der zum Kommunizieren und für allerhand anderes nützlich war, um die Musik noch etwas lauter zu machen. Den Blick wendete er wieder aus dem Fenster hinaus, in der Hoffnung, dass ihn niemand gehört hatte. Bei der Geräuschkulisse, die innerhalb der Bahn normalerweise herrschte, war es schwierig, doch konnte er es nicht genau sagen. Kleiner machte er sich auf dem Sitz, dann schloss er die Augen, als könnte er sich damit noch besser verbergen. Er schien unbemerkt zu bleiben.
Erst beim nächsten Halt hoben sich seine Lider. Ein kurzer Blick ging umher, verstohlen fast schon, wobei er an einer der Türen eine junge Frau erkennen konnte. Das weizenblonde Haar hing ihr in franzigen Strähnen ins Gesicht. Es reichte bis zu den Schultern, die es umspielte. Strahlend blaue Augen sahen durch die Bahn hindurch. Es wirkte, als würde sie etwas suchen. Wahrscheinlich war es aber nur ein Sitzplatz, wie es bei den meisten Fahrgästen der Fall war. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Eine Reaktion konnte er in ihrem Gesicht nicht erkennen, bevor er seine Aufmerksamkeit zurück auf das Fenster lenkte. Den Kopf drehte er dabei so schnell, dass seine Nackenwirbel ein leises Knacksen von sich gaben. Er kannte sie, dem war er sich sicher. Jedenfalls fast sicher. Nicht so sehr, als dass er sie ansprechen würde. Das würde er ohnehin von sich aus bei den wenigsten Frauen. Auch als sie sich direkt neben ihn setzte, ohne zu fragen, änderte dies nichts an seinem Vorbehalt. Mehr schob er sich in die Ecke zwischen Fenster und Sitz. Eine Berührung wollte er vermeiden. Zudem fühlte er sich wohler, wenn er eine gewisse Distanz zu Unbekannten wahren konnte, selbst wenn sie nicht so unbekannt waren. Nach dem gewohnten Ruck war das Gefühl der Bewegung zurück. Fest starrte er aus dem Fenster. Er drängte sich dazu. Der Wille war auf Dauer nicht stark genug und so blickte er für einige Momente zu seiner Sitznachbarin, die sich ihrem Happ widmete, auf dem sie herumtippte und las. Er vermied es aus Höflichkeit und Anstand, auf den Bildschirm zu sehen. Die Blonde ignorierte ihn. Für einen Moment ballte er die Hände zu Fäusten, entspannte sie aber schnell wieder, bevor es noch jemanden oder gar ihr auffallen würde. Nur schwer konnte er seinen Blick von ihr lassen. Ja, sie war es, eindeutig. Jenes Mädchen, mit dem er während seiner Schulzeit so viel zu tun hatte, mit der er so einige Dinge erlebt hatte und der er immer geholfen hatte, wann immer sie Hilfe brauchte. Dass sie ihn nun ignorierte, ließ etwas in ihm zerbrechen. Die rechte Hand wanderte in die Tasche. Die Musik schaltete er aus, behielt die Kopfhörer einer Tarnung gleich aber auf den Ohren. Gedämpft konnte er das Verkünden der nächsten Haltestelle hören. Diesmal hatte er noch nicht einmal das Anhalten bemerkt. Erneut spähte er zu ihr hinüber. Die Blicke trafen sich ein weiteres Mal. Auch diesmal war ihrem Gesicht keine Regung zu entnehmen. Kein Anzeichen dafür, dass sie ihn erkannte. Nicht einmal das kurze Zucken von Mundwinkeln. Schnell ließ er den Kopf zur Seite rucken, diesmal zum Glück ohne das Knacken, um aus dem Fenster zu sehen. Die Gebäude zogen schnell vorbei. Nervosität stieg in ihm auf, ein Gefühl der Unruhe geboren aus der Unsicherheit. Die Finger verkrampften sich. Er hob sie, um schlussendlich die Kopfhörer vom Kopf zu schieben, sodass sie locker um seinen Hals hingen. Langsam wendete er seinen Blick zu ihr, als könnte sie in der Zeit noch entscheiden, ob sie nun gehen wollte oder nicht. In seiner Güte ließ er ihr die Möglichkeit. Ein Teil von ihm wünschte sich, dass sie aufstehen würde, um zu gehen. Nach einigen Lidschlägen trafen sich die Augenpaare, als hätte sie es schon erwartet.
„Hey.“, kam es über seine Lippen hinweg und im nächsten Moment hasste er sich dafür. Weniger eindrucksvoll hätte er das Gespräch nicht beginnen können. Nun hatte er es und es würde kein Zurück mehr geben. Der Gedanke zersprang wie ein Glas auf dem Boden, als er ihr kurzes Lächeln sehen konnte. Es wirkte ehrlich.
„Hey.“, erwiderte sie daraufhin in fast identischer Tonlage. Die Stimme, die er schon seit Jahren nicht mehr gehört hatte, drang leise an sein Ohr, wie sie immer war. Sie hatte sich nicht geändert, kein bisschen. Nun war er sich vollkommen sicher, dass sie es war.
„Entschuldige. Ich habe dich nicht gleich erkannt. Ich war mir unsicher.“, offenbarte er ihr. Das vertraute Gefühl, was er stets bei ihr hatte, kehrte sofort zurück. Es fühlte sich an, als wären keine fünf Jahre seit dem letzten eher flüchtigen Treffen vergangen. Damals waren sie zufällig auf der Straße einander begegnet. Mehr als ein paar Worte hatten sie nicht gewechselt. Beide waren in Eile gewesen. So hatte nsie sich genauso schnell verloren wie sie sich wiedergefunden hatten.
„Schon gut. Das hätte ich auch nicht erwartet. Es ist immerhin schon länger her. Mir ging es gerade nicht anders.“, beschwichtigte sie und strich sich dabei eine der Strähnen aus dem Gesicht. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, waren ihre Haare noch deutlich länger gewesen und weniger franzig als jetzt, aber es passte zu ihr.
„Viel zu lange. Tut mir leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe.“
„Das muss dir nicht leid tun. Ich hätte es auch gekonnt.“, meinte sie sogleich mit gehobener rechter Hand weiter im beschwichtigenden Ton. Wahrscheinlich hatte sie bereits die Nummer gewechselt und er hätte sie ohnehin nicht erreichen können. Für lange Momente schaute er sie an. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Verzweifelt versuchte er nach einem dieser zu greifen, um das Gespräch nicht schon hier ersterben zu lassen. In seiner Unbeholfenheit griff er auf das zurück, was immer funktionierte. Die Frage nach ihrem Wohlbefinden irritierte sie nicht einmal, als hätte sie genau damit gerechnet und so gab sie ihm rasch Antwort. Wie auch bei ihm, so hatte sich bei ihr einiges geändert. Nach dem Studium, in dessen Zeit sie sich aus den Augen verloren hatten, hatte sie Arbeit außerhalb der Stadt gefunden, allerdings nur befristet und so war sie nun wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Eine Familie hatte sie in der Zeit nicht gegründet, was ihn erleichterte. Rasch verwarf er den Gedanken. Wie auch er, so war ihre Arbeit eintönig und wenig erfüllend. Es reichte zum Leben, was für beide gleichermaßen die Hauptsache war. Das Gespräch glitt hin zum Schwelgen in Erinnerungen aus der Schulzeit, wobei er ihr einige Male auch ein Lachen entlocken konnte. Zumindest das hatte sich geändert. Früher hatte man sie nur selten lachen hören. Mit wenigen hatte sie nur gesprochen, sah man einmal von ihm ab. Ihre ernste, traurig wirkende Miene schreckte viele ab. Selbst die Lehrer ließen sie in Ruhe, wenn es nicht unbedingt sein musste. Dabei war sie ein intelligentes, tiefsinniges Mädchen. Auch daran schien sich nichts geändert zu haben.
„Irgendwie war die Schulzeit viel zu schnell vorbei. Wie die anderen, die das Ende nie erwarten konnten, war ich gar nicht. Ich hätte noch ein paar Jahre mehr dranhängen können mit dir.“, gestand er ihr. Die Worte waren weitaus mehr ein Geständnis, als er es eigentlich geplant hatte. Aus dem Augenwinkel fiel ihm etwas auf. Sofort sprang er auf.
„Verdammt, ich muss raus!“, kam es über seine Lippen hinweg. Sie zuckte noch nicht einmal dabei, obwohl er lauter war als beabsichtigt. Einige Leute blickten zu ihm. Gekonnt ignorierte er sie. Zur Seite drehte sie sich, sodass er an ihr vorüber aus der Bank rutschen konnte, was er auch gleich tat, nachdem er seinen Rucksack gegriffen hatte. Den nötigen Platz machte sie ihm dafür.
„Warte.“, kam es von ihr bittend. Ihr Happ hatte sie gehoben. Er verstand, was sie wollte. Das eigene hielt er kurz an das ihre, dann schenkte er ihr ein weites Lächeln.
„Ich ruf dich heute Abend an, versprochen.“, äußerte er noch, bevor er schnellen Schrittes hin zur sich öffnenden Tür ging, um ins Freie zu treten. Eine ganze Station zu weit war er gefahren. Dank des Gesprächs hatte er es nicht einmal bemerkt. In Richtung des Turmes schaute er, dann auf die Anzeige der Bahn. Zu Fuß würde es wesentlich länger dauern, als wenn er die andere Seite nehmen würde. Hinter der ausfahrenden Bahn vorbei stieg er über die Schienen. Ein gefährliches und verbotenes Unterfangen. Noch nie zuvor hatte er dies gemacht, doch in diesem Moment war es notwendig. Das Herabsteigen und Hinaufsteigen auf der anderen Seite in normaler Weise würde zu lange dauern. Die nächste Bahn würde er damit garantiert verpassen. Mit etwas Mühe hob er sich unter dem Kopfschütteln einiger anderer wartenden Fahrgäste wieder hinauf auf den Wartebereich. Er ignorierte auch diese. In den letzten beiden Jahren, die er bei seiner Firma arbeitete, war er noch nie zu spät gekommen und hoffte, dass sich dies nun auch nicht ändern würde. Außer Atem lehnte er sich gegen den kalten stählernen Mast der Anzeigetafel. Die Augen schloss er, nur um sie im nächsten Moment aufzureißen. Eine laute Sirene hatte ihn erschreckt. Ein Polizeiauto rauschte über die Straße neben der Bahn, dicht gefolgt von zwei weiteren und mehr. Eine ganze Kolonne war es, die sich unter dem Geheul der Sirenen durch die Straßen begab. Kleinere Einsatzwagen, aber auch Transporter. Es war ein spezielles Einsatzkommando. Verdutzt schaute er diesem nach, fuhren sie genau in die Richtung, in die er musste und aus der er zuvor noch gekommen war. Einen Schritt zur Seite machte er. Tuschelnde Stimmen waren von den Fahrgästen um ihn zu hören. Gerade als er auf die Anzeigetafel blickte, wechselte diese ihr Bild: „Gefahr!“.
„Aufgrund einer aktuellen Gefahrenlage am Platz der Nationen wird umgehend der gesamte Bahnverkehr in und um die Stadtmitte eingestellt. Wir bitten um ihr Verständnis.“, erklang die Durchsage daraufhin aus den Lautsprechern. Einige der Leute eilten in einem Anflug von Panik die Treppen hinab, um schnellstmöglich die Station zu verlassen. Eine Gefahrensituation wie diese war man in Silhaine nicht gewohnt. Ihre Reaktion war verständlich. Er sah ihnen erst nach, dann auf sein vibrierendes Happ. Auch auf diesem war die Gefahrenmeldung zu lesen. Der Klang eines Hubschrauberpropellers unweit von ihm unterstrich es noch einmal. Wie gelähmt fühlte er sich in diesem Moment. Der Platz der Nationen war genau die Station, an der er sich nun eigentlich hätte befinden sollen. Blind machte er einige Schritte zurück und ließ sich auf die Bank fallen, als er diese in den Kniekehlen spürte. Auf das Happ starrte er hinab. So fiel ihm erst viele Momente später auf, dass sich ebenso eine Fehlermeldung auf diesem zeigte, in den Hintergrund geraten aufgrund der Warnung.
„Kontakt konnte nicht verifiziert werden.“, war dort zu lesen. Er wischte es zur Seite. Darum würde er sich später noch kümmern. Etwas tippte er auf dem Happ umher, dann hielt er es sich ans Ohr. Eine bekannte Stimme erklang aus dem Gerät.
„Wenigstens es geht ihnen gut. Sie haben frei für heute. Wir machen hier nichts mehr. Es wird gerade alles evakuiert.“, erklang auf seine Entschuldigung hin die Stimme der stets förmlichen Sekretärin. Zumindest darum musste er sich nicht mehr sorgen.
„Vielen Dank. Wir sehen uns dann morgen.“, verabschiedete er sich, wobei er das leichte Zittern in der Stimme nicht unterdrücken konnte. Noch bevor sie die Möglichkeit hatte, etwas zu erwidern, beendete er den Anruf. Dann starrte er wieder auf den Bildschirm. Seine Finger strichen über diesen. Erst ohne Ziel, dann fiel ihm die Fehlermeldung wieder ein. Die Übertragung ihrer Nummer hatte nicht funktioniert, weil es diese angeblich nicht gab. Sein informationstechnisches Wissen würde ihm dabei auch nicht weiterhelfen. Das war nicht seine Sparte.
„Entschuldigung. Aufgrund der Gefahrenlage würde ich sie bitten, umgehend die Station zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen.“, weckte ihn eine genervt wirkende und auf Zwang freundlich bleibende Stimme aus den Gedanken. Langsam hob er den Kopf, um in das Gesicht eines Polizisten zu schauen. Gerade als dieser ansetzte, seine Forderung zu wiederholen, erhob er sich. Ohne ein weiteres Wort ging er an ihm vorüber, um die Treppe hinabzusteigen. Einige Schritte über die Straße hinweg machte er. Nur im Augenwinkel fiel ihm dabei das Meer aus Sirenen auf und dass man bereits damit begonnen hatte, Absperrungen auf der großen Hauptstraße neben der Bahn zu errichten. Er ging weiter, ohne zu wissen, wohin. Er wusste noch nicht einmal, wo er sich in diesem Moment überhaupt befand. Das Happ hätte ihm dabei helfen können, doch auf diesen Gedanken kam er in seinem Zustand nicht. Den schrillen Ton der Sirenen ließ er hinter sich. Das war alles, was er wollte.
In eine kleine Grünanlage brachten ihn seine Schritte, wie es viele in dieser Stadt gab, und dort ließ er sich erneut auf eine Bank sinken. Warm empfing ihn das Holz. Das Happ hatte er die gesamte Zeit fest umklammert. Nun sah er darauf. Noch einmal wischte er über den Bildschirm, dann rief er die Fehlermeldung auf und betrachtete diese einige Momente genauer. Die Gedanken wurden allmählich klarer. Ihren Namen kannte er zu gut und auch ihr Geburtsdatum hatte er nie vergessen. Jedes Jahr hatte er an diesem Tag an sie gedacht. In die Suchmaschine tippte er dies, um das NVE zu durchsuchen, das Netz des vereinten Europas, das alles und jeden auf digitalem Wege verband. Einige Suchanfragen wischte er zur Seite, dann erstarrte er. Das Foto, mit welchem sie unterlegt war, war genau das Gesicht seiner alten Schulfreundin, die laut dieser Anzeige bei einer Schießerei zwischen Regierungsmitarbeitern und Aufrührern als Nebenstehende vor drei Monaten ums Leben gekommen war. Seine Hand begann zu zittern. Mit dem Daumen wischte er die Anzeige schnell zur Seite. Gerade als er das Happ sperren wollte, vibrierte es wieder. Eine Nachricht zeigte sich. Eine Nummer, von der diese kam, war nicht auf dem Bildschirm zu sehen.
„Vom Ast des Baumes aus, umgeben von Wind, der die Blätter rascheln lässt, sind die Wurzeln unter der Erde nicht zu sehen. Glaub nicht alles, was du liest.“, lautete der Text. Das Symbol eines Baumes begleitete diesen. Wie lange er auf diese Nachricht starrte, bekam er nicht mit, doch irgendwann sperrte er den Bildschirm. Dieser Tag würde ihm auf ewig im Gedächtnis bleiben.
„Den jüngsten Informationen der Polizei zufolge sind bei dem Schusswechsel sieben Personen ums Leben gekommen, neun wurden zum Teil schwer verletzt. Den Berichten zufolge haben vier bewaffnete Männer das Feuer auf ein Haus am Platz der Nationen eröffnet, aus dem das Feuer erwidert wurde. Alle vier mutmaßlichen Angreifer sind tot geborgen worden. Das Sondereinsatzkommando stürmte das Haus. Weder konnten in diesem Bewohner, noch Verletzte oder Leichen aufgefunden werden. Es wird weiter über die Umstände des Anschlags ermittelt. Die Identität der Angreifer ist noch unbekannt.“