11.11.2022 (nach einer Geschichte vom 19.05.2012)
Ihr Handgelenk packte ich, doch entriss sie sich und rannte weiter.
„Bleib stehen!“, rief ich ihr nach und machte mich daran, sie zu verfolgen. Ich sah noch, wie sie ins Stolpern geriet. Meine Schnelligkeit reichte nicht aus, um sie davor zu bewahren. Auf dem harten, gefliesten Boden schlug sie auf. Das seidige, blonde Haar begleitete sie dabei wie ein Wasserfall, um sich dann wie eine Decke über sie zu legen. Schnell ging ich zu ihr. Mit zitternden Händen packte ich sie an den Schultern. Ich wollte sie auf den Rücken drehen, um sie wieder aufzurichten. Unter einigen Mühen hatte ich Erfolg dabei. Kaum dass sie saß, warf sie sich um meinen Hals. Neben meinem Ohr konnte ich sie schluchzen hören. Sie weinte.
„Ist ja schon gut. Beruhige dich bitte.“; flüsterte ich ihr tröstend zu. Meine Schulter war bereits von ihren Tränen nass. Zuerst war ich zurückhaltend, gar schüchtern. Drängen wollte ich sie nicht. Nicht in dieser Situation. Schlussendlich entschloss ich mich dazu, die Arme um sie zu legen. Erst vorsichtig, aber als ich merkte, dass sie sich nicht wehrte, schloss ich sie fester in der Umarmung ein, um sie schützend und tröstend an mich zu drücken. Sie fühlte sich kalt an. Ihren schnellen Atem konnte ich spüren.
„Was ist denn los? Was ist passiert?“, frage ich sie leiser Stimme. Meine Worte ließ ich so sanft klingen, wie es mir möglich war. Auf keinen Fall wollte ich sie weiter verschrecken. Sie musste sich zuerst beruhigen. Die Zeit dafür wollte ich ihr lassen. Langsam löste sie sich von mir. Die blauen Augen sahen mich an. Den Blick senkte sie nach einem Lidschlag. Ihre zittrige Hand wischte über ihre Augen, um die Spuren der Tränen zu verbergen. Vergeblich. Das Schwarz, welches um ihre Augen lag, war verwischt, als hätte jemand versucht ihren Fluss der Tränen für die Ewigkeit auf einer Leinwand einzufangen.
Plötzlich erhob sie sich. Nein, sie erhob sich nicht nur, sie sprang auf. Die Arme schlang sie fest um den eigenen Körper. Den langen Gang, der sich hinter mir befand, sah sie entlang. Ich konnte sehen, wie ihre Augen etwas suchten, wie sie etwas fanden. Den Kopf drehte ich, um ihr folgen zu können. Dort war nichts. Das grelle Licht erleuchtete das Weiß so sehr, dass sich kein Schatten ergab, in dem sich etwas verbergen konnte. Fest behielt ich sie im Blick, als ich mich langsam erhob. Für keine Sekunde wollte ich sie aus den Augen lassen. Die ohnehin schon helle Haut war noch bleicher geworden. Dort in der Leere war etwas, was ihr Angst machte. Als ich mich vor sie schob, um sie davon abzulenken, starrte sie weiter, als würde sie durch mich hindurch noch immer das erkennen können, was ihr diese Qual bereitete, als wäre ich nicht da. Meine Hände hob ich langsam. Auf ihre Schultern wollte ich sie legen, um sie umzudrehen. Ihr Blick war mittlerweile ebenso leer wie das, in was sie starrte. Gerade als ich den Stoff ihres Oberteils unter den Fingern spüren konnte, sackte sie zusammen. Leblos lag sie da. Ich konnte nichts mehr tun. Niemand konnte das. Warum sie sterben musste, weiß niemand, doch ich glaube es zu wissen. Es war ihre Vergangenheit, die sie eingeholt und getötet hatte.