12.08.2018
Es war einmal ein junger Mann von edlem Blute, der weder sonderlich stark noch sonderlich geschickt war. Sein Mut war es, der ihn auszeichnete und aus diesem Grunde hatte sein Herr ihn zum Ritter gemacht. Nun zog er durch das Land auf der Suche nach einer Aufgabe, mit der er sich seinen Lebensunterhalt verdienen konnte. Aufgrund seiner schmächtigen Statur wurde er auf dieser Suche oftmals verlacht. Selbst die Bauern zollten ihm nicht den Respekt, den sie sonst den edlen Kriegern entgegen brachten, die ihre Höfe durchquerten.
Seine Suche fand ihr Ende, als er von einer Burg erfuhr, die auf einem großen Hügel inmitten des Waldes lag und von dort auf das Tal blicken konnte. Eine Prinzessin sollte dort von einem bösen Zauberer gefangen gehalten werden, der zu seinem Schutze einen Drachen in die Mauern geholt hatte. Niemand, der sich zur Burg hinauf wagte, um das edle Fräulein zu retten, kam je zurück. Der Mann, der dem Jüngling davon berichtete verlachte ihn sogleich, als er sich entschloss, die Prinzessin aus ihrer gar misslichen Lage zu befreien. Der Spott des Mannes konnte seinem Tatendrang nichts entgegen setzen.
So machte er sich auf den Weg, den gewundenen Pfad entlang, der durch den Wald hindurch, hinauf zur Burg führen sollte. Niemand war zu sehen, der es ihm gleich tat. Er war allein. Nur die Tiere des Waldes waren zugegen. Umso näher er der Burg kam, umso langsamer und vorsichtiger wurden seine Schritte. Um die letzte Biegung spähte er und sah auf der östlichen Bastion das schuppige Ungetier liegen. So viel Mut er auch hatte, so wenig Geschick und Stärke war es doch. Einen Drachen dieser Größenordnung würde er niemals alleine schlagen können. Von dieser Erkenntnis ermattet wendete er sich herum.
Den Weg ging er wieder hinab, mit hängendem Kopf und Schultern. Eine Stimme drang an sein Ohr. Sie ließ ihn aufschrecken und so hob er den Blick. Vor ihm, mitten auf der Straße, stand eine alte Frau in nachtschwarzem, einfachem Mantel. Die Kaputze hatte sie so tief ins Gesicht gezogen, dass man nur ihre Nase unter dem Stoff hervorstechen sehen konnte.
„Was betrübt dich, mein Junge?“, wollte sie mit ihrer alten, knarzigen Stimme wissen.
„Dort oben in der Burg wird eine Prinzessin gefangen gehalten. Ein böser Zauberer ist dafür verantwortlich und ein Drache unterstützt ihn dabei. Es ist unmöglich für mich, in diese Burg zu kommen. Ich bin zu klein und zu schwach dafür.“, schüttete der Edelmann ihr sein Herz aus. Die alte Frau lachte.
„Soeben sah ich hier einen Mann hinauf schreiten, dessen Schritte von Mut zeugten und sie damit schwerer machten, als es Kraft und Geschick jemals könnten. Ich kam heraus, um ihn zu suchen, doch was ich nun finde, ist nur ein Jüngling, der seinen Mut verloren hat.“, entgegnete die Verhüllte und wendete sich herum. Da der junge Edelmann niemand anderen auf dem Weg gesehen hatte, musste ihn die alte Frau meinen und so gebot er ihr Einhalt: „Wartet, Mütterchen. Ich war dieser Mann.“ Die Alte wendete sich herum. Als würde sie ihn zum ersten Mal sehen, maß sie ihn vom Scheitel bis zur Sohle.
„Wenn wirklich du das warst, dann wirst du diesen Zweig zu einer Höhle hoch oben auf dem Berg dort bringen können.“, und mit den Worten reckte sie einen einfachen Zweig hervor, mit welchem sie einen weiteren Hügel hinauf zeigte. Der junge Mann, von neuem Mut beseelt, griff sogleich nach dem Zweig.
„Ich werde dies tun.“, ließ er sie dazu wissen. Ein zufriedenes Nicken folgte auf die Worte. Die Frau wendete sich herum, um den Weg hinauf zu gehen und im Wald zu verschwinden. Der Edelmann machte sich sogleich auf in die gewiesene Richtung. Einen dichten Wald musste er dafür durchschreiten. Wann immer ihn die Stärke oder das Geschick verließ, sagte er sich selbst die Worte, die er von der Frau gehört hatte, dass der Mut die Schritte schwerer machte als es jede andere Kraft kann. So erreichte er den Ort, den ihm die alte Frau zum Ziel seiner Queste gemacht hatte.
Die Höhle betrat er und hörte das Atmen eines Tieres. Dort, wo er einen Bär erwartete, sah er statt Fell Federn. Das Tier vor ihm erhob sich und breitete seine Flügel aus. Einen lauten, vogelhaften Ruf gab es von sich. Es war ein Greif. Dieser trat auf ihn zu. Er musterte ihn, was den jungen Mann nicht zurückweichen ließ. All seinen Mut nahm er zusammen, um dem königlichen Tier zu zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte. Der Greif zeigte sich wohlwollend. Als er ihm den Zweig entgegen reckte, trat das Tier hinaus in das Freie. Der Edelmann folgte ihm und als die vogelartige Gestalt sich senkte, stieg er auf ihren Rücken.
Hoch hinauf in die Lüfte erhoben sie sich, dass er sich fest in den Federn halten musste, um nicht vom Rücken des Greifen zu fallen. Die Lande unter sich sah er in einer Schnelligkeit davonrauschen, wie er sie noch nie zuvor erlebt hatte. Wälder und Hügel überflogen sie. Flüsse konnte er sehen, auf denen kleine Boote trieben, um zu fischen oder Reisende überzusetzen. Einem großen Berg näherten sie sich, in dem der junge Mann den Brocken erkannte, die Heimat der Hexen. Vor einer Höhle dort landete der Greif weich wie eine Feder. Vom Rücken hinab glitt sein Gast, um sogleich die Höhle zu betreten, die vor ihm lag. An einem großen Kessel sah er die Frau stehen, die ihm zuvor auf der Straße hinauf zur Burg begegnet war. Einen großen Löffel hatte sie in der Hand, mit dem sie im Kessel rührte. Zweifelsohne gehörte sie zu den heimischen Zauberinnen. Gewohnten Mutes ging der Jüngling auf sie zu und reckte seine Gestalt voller Stolz.
„Du bist also angekommen.“, stellte die Alte fest, ohne ihn anzublicken. Der Kessel vor ihr dampfte. Nebelschwaden umwaberten ihn. Den langen Löffel holte sie aus ihm hervor.
„In diesem Kessel ruht der Schlüssel zu deinem Erfolg. Ein Artefakt, welches dir bei der Befreiung der Prinzessin behilflich sein wird. Es ist alt und mächtig. Deine mangelnde Stärke und dein Geschick wird es ausgleichen. Du musst es dir nur nehmen.“, verhieß die Hexe. Ungebändigten Mutes trat der junge Edelmann an den Kessel heran. Die Hand streckte er aus. In den Nebel tauchte sie ein und kurz darauf in das Wasser, welches unter ihm lag. Zu seiner Überraschung war es kalt. Am Grund des Kessels fand er etwas, was er geschwind hervorholte. In seiner Hand hielt er einen Stein.
„Er ist mein Geschenk an dich. Der Zauberer kann damit besiegt werden. Der Drache allerdings, den er gebunden hat, kann nur durch die Vernichtung des Herzens befreit werden, dass der Zauberer ihm geraubt hat.“ Mit diesem Wissen entließ die Hexe ihn in die Freiheit. Den Stein in der Hand schwang er sich auf den Rücken des Greifen und sann im Fluge nach, wie er nun vorgehen wollte.
Dörfer und Städte besuchte er. Dort, wo man ihn zuvor noch verlachte und ihm spöttische Bemerkungen entgegenbrachte, bewunderte man ihn nun aufgrund des mächtigen Tieres, welches er mit sich brachte. So war es ihm ein leichtes, eine kleine Heerschar unter sich zu vereinen, die er alsbald auf den Weg hinauf zur besetzten Burg brachte. Da sie der Greif vereinte, erwählte er sich die Greifenkralle als Banner.
Kaum waren sie bei der Burg angekommen, so spie der Drache den Verbündeten schon Feuer entgegen. Diese verteidigten sich und versuchten mit all ihrer Kraft, die östliche Bastion der Burg zu erstürmen, um den Drachen zu erschlagen. Der Jüngling allerdings, der dies als Ablenkung geplant hatte, flog auf dem Rücken des Greifen ohne Beachtung vom Drachen hinauf zum Turm, in dem der Zauberer die Prinzessin gefangen halten sollte.
„Du wagst es, mich anzugreifen, Narr?“, schleuderte der in ein schwarzes Gewand gekleidete ihm entgegen, kaum dass er den Turm betreten hatte. Vom Mut erfüllt trat der Edelmann näher. Er bot ihm die Stirn, was dem Zauberer missfiel, aber nicht einschüchterte. Ein grollendes Lachen gab er von sich.
„Also schön. Ich gebe dir eine Chance mich zu besiegen, bevor ich dich in einen Haufen Asche verwandeln werde, Unwürdiger.“, gewährte der Dunkle. Mit einem Magier würde er es nicht aufnehmen können, dachte der Greifenreiter bei sich. Die Hand steckte er in den Beutel und holte den Stein hervor.
„Du glaubst, ich kann nicht zaubern.“, vermutete der junge Mann. Den Stein warf er einmal in die Luft, um so die Aufmerksamkeit seines Kontrahenten auf diesen zu lenken. „Sieh selbst, wie ich aus diesem Stein einen Falken entstehen lassen werde!“ Den Stein schleuderte er voran und warf ihn dem Zauberer an den Kopf, der davon getroffen ohne Bewusstsein niederging. Die Gunst dieses Umstandes nutzte er, um das Drachenherz zu greifen, welches auf einem Tisch lag und die Zelle zu öffnen, in der sich die Prinzessin befand. Noch bevor der Magier erwachte, schloss er ihn in die Zelle ein. Anschließend stiegen Jüngling und Prinzessin auf den Rücken des Greifen, der sich hoch hinauf in die Luft begab. Aus dieser Höhe schleuderte der Edelmann das Drachenherz hinab, genau auf die Spitze des Turmes, die es aufspießte. Die Feuersbrünste von der östlichen Bastion erstarben augenblicklich und man konnte den Jubel der Männer hören. Die Burg erstürmten sie.
Überwältigt vom Erfolg des jungen Edelmannes, übergab der König ihm als Dank für die Rettung seiner Tochter die Burg, die er befreit hatte. Ebenso gab er ihm die Hand seiner Tochter, auf dass eine Hochzeit auf dem Altan der neuen Besitzung stattfinden sollte, die der Jüngling als Falkenstein benannte, aufgrund des Steines, mit dem er den dunklen Magier besiegt hatte. Auch die Hexe war während der Hochzeit in ihrer Verkleidung anwesend, um dem Bräutigam zu beglückwünschen und ihn wissen zu lassen, dass er mit nicht mehr als einem Stein und seinem Mut dies vollbracht hatte. Von diesem Tage an sollten all jene, die die Ritterwürde auf der Burg Falkenstein errangen, die Greifenkralle als Wappen auf ihren Röcken tragen und als Greifenritter bekannt sein. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.